Mit der Via Dolorosa ist nicht nur der Kreuz- und Leidensweg Christus gemeint, der am Karfreitag für Jesus am Kreuz endete. Nein, jeder einzelne Mensch hat in seinem Leben eine oder gar mehrere Phasen zu bestehen, in denen er einen Leidensweg beschreiten muss. Kaum einer findet heutzutage sein Finale in einer Kreuzigung, manche Wege enden jedoch dennoch im Tod.
Vielleicht wird eine schwere Krankheit diagnostiziert, in deren Verlauf der Mensch körperlich schwächer und wehrloser wird, oder es muss sich jemand mit dem Tod eines lieben Angehörigen auseinandersetzen.
Dann gibt es noch die unzähligen individuellen Leidenswege, die jedem im Alltag begegnen. Der eine hat eine schwere Kindheit, die andere entspricht körperlich nicht dem aktuellen Zeitgeschmack und wird daher von anderen gehänselt. Wieder andere stehen am Ende einer Beziehung und müssen sich neu sortieren. Erziehung und Sozialisation bereiten uns im besten Fall auf diese Art von Leiden vor, oftmals sind sie jedoch auch gleichzeitig die Ursache für die Schmerzen.
Die Gesellschaft als Ganzes aber auch einzelne Personen stellen jeden von uns irgendwann einmal vor zunächst unlösbar scheinende Aufgaben. Sie sind quasi der Anfang des Leidensweges.
Wer das erkennt, ist schon einmal klar im Vorteil, kann sich die Arbeitshandschuhe überstreifen und die Steine auf seinem Weg, je nach Kraft und Ausdauer, Stück für Stück zur Seite räumen. Am Anfang kann das ziemlich schwierig sein. Man bekommt vom ständigen Bücken und Heben der Steine Rückenschmerzen und trotz der Handschuhe blutige Blasen an den Händen. Bleibt man dennoch beharrlich bei der Sache, gewöhnt man sich an die Arbeit. Man schaut sich jeden Stein einzeln an und holt sich Hilfe, sobald einer zu schwer erscheint. Der Rücken wird allmählich straffer, die Muskeln stärker.
Am Ende so eines (mustergültig) verlaufenden Leidensweg bemerkt man dann ganz erstaunt, wie gestärkt man ist. Es war der Weg, auf dem unser Fokus lag.
Auf diesem Weg sind uns Menschen begegnet, die wichtige Hilfestellungen geleistet haben. Manche haben uns zugehört, wenn wir fast schon aufgeben wollten, manche haben unsere tränen getrocknet und manche hatten ihre eigenen Arbeitshandschuhe dabei und halfen uns die schwersten Steine an den Wegesrand zu rollen. Am Ende des Weges wissen wir, welche Steine uns in Zukunft gefährlich werden können, wir wissen aber auch um unsere Kraft, sie zu erkennen. Diese Steine bringen uns nicht mehr zum Stolpern.
Blöd, ja geradezu unerträglich kann so ein Leidensweg jedoch werden, wenn man seinen Schmerz in sich hineinfrisst, wenn man nicht mit anderen Menschen darüber spricht.
Dann leidet man still in sich hinein und kommt keinen Schritt voran. Die Zauderer und „Nicht drüber sprechen“ Leute unter euch dürfen sich da ruhig mit Jesus vergleichen: der hatte auch auf der Via Dolorosa noch Helfer und Mitfühlende, die ihm das Blut von der Stirn wischten und ihm Wasser reichten.
Es gibt immer Menschen im eigenen Umfeld, die bereit sind zu helfen. Man muss nur mit ihnen sprechen. Oft reicht schon der Satz: „Mir geht’s nicht gut, weil…..“, um sich selbst klar über sein Problem zu werden. Manchmal ordnen sich die wirren Gedanken wie von Zauberhand, nur weil man darüber spricht.
Nichts zu sagen, still zu leiden, manifestiert jedoch das Problem. Die Via Dolorosa scheint keine Ausfahrt zu haben. Man fühlt sich allein, hilflos und unsäglich müde.
Dann geht man die Via Dolorosa ganz allein.
Nein, man GEHT sie dann eben nicht! Man bleibt reglos auf der Stelle stehen, verharrt in seinem Leid und ist starr im Denken weil die Impulse von außen fehlen.
Jeder kennt solche Zeitgenossen. Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sind, ihren Fokus auf den WEG zu legen. Sie fokussieren sich lieber auf das Leid.
Sie gewöhnen sich lieber an den Status des Opfers, als an Rückenschmerzen und Blasen an den Händen. Sie hüllen sich ein in ihre kuschelige Opferblase, vielleicht auch aus Furcht vor den fremden Gedanken und Gefühlen außerhalb ihrer Denkblase.
Sie gehen einfach kein Risiko ein. Nicht einmal das Risiko des eigenen Gesundwerdens.
Was macht man mit solchen Menschen?
Ganz oft bringt man ihnen, wenn man sie noch nicht so gut einzuschätzen weiß, Mitgefühl und Geduld entgegen. Man nimmt ihnen Dinge ab, von denen man ahnt, wie belastend sie sein müssen. Man glaubt ihnen ihren Schmerz und unterläßt alles, um sie nicht noch mehr zu quälen.
Man packt sie in Watte.
Ich glaube, das ist falsch. Menschlich zwar nachvollziehbar, aber trotzdem falsch. Statt dem Leidenden zu helfen, allmählich stärker zu werden, rollen wir an seiner Stelle die Steine vom Weg. Wir machen uns ohne es zu wollen zu Ko-Leidenden und schwächen somit aktiv den Anderen und uns selbst obendrein. Dessen Leidensdruck steigt derweil ins unermessliche. Schließlich erfährt er von allen Seiten, wie unfähig er ist, sein eigenes Leid zu mindern.
Das Umfeld reagiert zunehmend gereizt und ZACK! sind alle miteinander auf einer ganz besonderen Via Dolorosa.
Wichtig ist, wie so oft, der allererste Schritt: den muss jeder ganz für sich allein machen. Ganz allein das Wagnis eingehen, hoffend, dass am Ende des Weges der süße Nektar der inneren Stärke zu schmecken ist.
Der eigene Leidensdruck muss so hoch und so schmerzlich sein, dass alles andere besser zu sein scheint, als gequält auf der Stelle zu treten. Das gilt gleichermaßen für den Leidenden als auch für sein Umfeld. Auch das Umfeld muss sich irgendwann einmal klar darüber werden, dass es niemandem hilft, sondern alle gemeinsam geschwächt werden, wenn man die Dinge beim Alten läßt.
Den zweite Schritt kann man dann schon mit wohlwollenden Wegbegleitern machen: die einzelnen Steine begutachten, die Kleinen selbst und die Großen gemeinsam wegräumen.
Ja, das ist anstrengend und manchmal kann auch solch eine Räumaktion quälend schmerzhaft werden. Von einfach hat ja auch niemand etwas gesagt. Dann muss man sich bewußt machen, wie wichtig der Weg im Grunde ist. Schritt für Schritt wird man stärker. Schritt für Schritt wird man sicherer. Schritt für Schritt wagt man einen kleinen Blick aus seiner Opferblase.
Mit der Zeit, je länger man auf seiner individuellen Via Dolorosa unterwegs ist, bemerkt man dann auch die vielen Ruheplätzchen, die der Weg anzubieten hat. Wenn man eine kleine Verschnaufpause braucht, kann man sich ruhig niederlassen, eine Weile in den Himmel schauen und dann gestärkt wieder weiter wandern.
Auch uns wird zu Zeiten das Blut von der Stirn getupft und Wasser gereicht. Wir müssen es nur erkennen lernen und zulassen
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Wer in diesen Tagen auch auf seiner eigenen Via Dolorosa unterwegs ist, dem wünsche ich den Mut zum ersten Schritt und das Vermögen Helfer zu erkennen.
All jenen, die sich so in ihrer Opferrolle eingekuschelt haben und im Traum nicht daran denken, sie zu verlassen, denen rufe ich ein freundliches aber standhaftes: „Dann heul doch!“ zu.
Frohe Ostern!
Text: A. Müller