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Was sollen bloß die Leute denken?

„Was sollen bloß die Leute denken?“. Diesen Satz hat wohl jeder schon einmal gehört. Er wurde (und wird) immer gerne dann ausgesprochen, wenn jemand mit einer Situation überfordert ist und dann in seiner Not die gesellschaftliche Keule auspackt. 

Das Kind bekommt im Supermarkt einen Trotzanfall und die Mutter versucht es mit diesem Satz zur Räson zu bringen.

Der Teenager malt sich die Haare bunt an, piekst sich Nadeln durch die Nase und die Eltern haben Angst vor nachbarschaftlichem Gerede.

Wir wollen nicht, dass jemand schlecht von uns denkt.

Vor unserem geistigen Auge läuft sofort ein Film ab: wildfremde Menschen wenden sich angewidert von uns ab, weil wir etwas vermeintlich unanständiges tun.

Die berühmteste Mahnung in diesem Zusammenhang ist wohl der mütterliche Hinweis, man solle keine löchrigen Unterhosen tragen. „Falls etwas passiert und der Notarzt muss dich versorgen. Was soll der dann von dir denken?“ Allerdings hat noch niemals jemand berichtet, ein Notarzt hätte die Erstversorgung abgebrochen, weil ein Patient Löcher in der Unterhose hatte. Und überhaupt: im Normalfall sehen die wenigsten Leute unsere Unterhose. Dieser Anblick bleibt meist wenigen Auserwählten vorbehalten. 

Wer sind denn eigentlich die Leute, die etwas über uns denken und warum glauben wir, dass die überhaupt etwas über uns denken? Der Satz „was sollen bloß die Leute denken?“ impliziert ja auch, es würde grundsätzlich negativ über uns gedacht. 

Vermutlich sind mit den „Leuten“ die allgemeinen Grundwerte der Gesellschaft gemeint. Wer sich innerhalb dieser Werte bewegt, geht kein Risiko ein negativ aufzufallen. im Grunde ist die Mahnung also eine gute Sache. Jedenfalls wenn es um allgemeine Regeln geht, wie z.B.: sei freundlich und hilfsbereit, helfe anderen in der Not und erschlage niemanden mit einer Axt.

Allerdings verpufft die Wirkung des Satzes recht schnell, wenn konkrete Handlungen gemeint sind.

Wer in drei Teufels Namen soll denn überhaupt wissen, dass jemand eine löchrige Unterhose trägt? Sie wird ja meist durch eine weitere Hose verborgen.

Sobald eine Handlung jedoch nach außen sichtbar ist, darf man sich schon darüber Gedanken machen, wie sie wohl wirkt. Das Nachdenken über die Außenwirkung darf allerdings nicht zum tragenden Element werden, denn „die Leute“ nehmen uns gar nicht so wichtig, wie wir uns selbst nehmen. Meistens bemerken sie uns gar nicht.

Selbst wenn sie uns in einer Situation erwischen, die im Nachhinein vielleicht peinlich ist, erfahren wir durch „die Leute“ kaum Unterstützung. Kaum eine Mutter mit trotzendem Kleinkind kann über freundliche Hilfestellung berichten. 

„Die Leute“ sind und bleiben gesichtslos. Sie gehen im schlimmsten Fall kopfschüttelnd an uns vorbei und haben uns nach spätestens fünf Minuten wieder vergessen. Was also die „Leute“ von uns denken, kann uns herzlich egal sein. Wir bleiben in ihren Gedanken kaum haften und selbst wenn sie am Abend kurz von uns erzählen, gibt es keine negativen Konsequenzen für uns. Die machen wir uns deshalb lieber selber, indem wir uns mit unserer Vorstellung, uns in ein schlechtes Licht gerückt zu haben, selbst kasteien.

„Was sollen bloß die Leute denken?“ ist ein Satz, der uns in ein vermeintlich anerkanntes Schema drücken möchte. Vielleicht zeigt dieser Satz aber auch die eigenen inneren Grenzen auf. Man wagt den Schritt über diese Grenze lieber nicht, aus Furcht, auf der anderen Seite könne es unbekannte Reaktionen geben. Da bleibt man doch lieber in altbekanntem Fahrwasser.

Das ist absolut verständlich. Es kostet schon einige Kraft und Überwindung, sich dem Risiko einer gesellschaftlichen Beurteilung zu stellen. Manchmal jedoch entsteht daraus etwas sehr Schönes. Wer es wagt, mit einer neuen Idee, einem anderen Outfit oder mit unangepasstem Verhalten an die Öffentlichkeit zu gehen, erfährt oftmals viel Zuspruch. Plötzlich merkt man, dass man gar nicht alleine ist und es noch einige andere „Leute“ gibt, die ähnlich handeln. „Die Leute“ können also durchaus Gleichgesinnte sein.

Bedeutet die Hoffnung auf Gleichgesinnte nun auch einen Freibrief für alle Handlungen, weil es ja egal ist, was „die Leute“ von uns denken? Nein, auf keinen Fall.

Entscheidend ist das Ausmaß der Handlung. Man sollte sich schon die Zeit nehmen und sich fragen, inwieweit eine Handlung oder Ansicht andere Menschen berührt. Dabei geht es weniger um unsere eigene Außenwirkung, als um die Wirkung auf „die Leute“.

Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man durch eine bestimmte Aussage eine ganze Menschengruppe verunglimpft oder nur sich selbst ins Abseits stellt. 

Verbreitet man also Parolen gegen eine Personengruppe, passiert einem selbst nicht viel. Fallen diese Parolen jedoch auf fruchtbaren Boden, können sie für die Personengruppe durchaus schlimme Folgen haben. Hier bekommt der Satz „was sollen bloß die Leute denken?“ einen sehr wichtigen und todernsten Hintergrund.

Wenn ihr also irgendwann einen latent demagogischen Satz in die Welt herausschreit oder irgendwo lest, fragt euch vorher einfach: „Was sollen bloß die Leute denken?“

Text: A. Müller

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Zum Valentinstag

In wenigen Tagen ist es wieder soweit: Bäckereien, Süßkramhändler und Blumenläden rüsten sich, um all die kaufinteressierten Kunden bedienen zu können. Sie backen kleine Törtchen, gießen flüssigen Zucker in Herzchenform und binden unzählige Sträuße aus roten Rosen.

Schlaue Leser wissen jetzt genau, um welchen Tag es sich handelt: der Valentinstag ist gemeint.

Tag der Liebe und der Liebenden. Hach, wie romantisch.

Doch kaum jemand weiß um die Herkunft dieses Tages. Es wird ja gemunkelt, der Valentinstag sei nur ein Verkaufstrick schlauer Floristen, um im umsatzschwachen Winterhalbjahr ein wenig Kohle in die Kasse zu bekommen. Ganz abwegig ist diese Theorie zwar nicht, aber nichtsdestotrotz ist sie falsch.

Also: wer hat’s erfunden?

Der Valentinstag ist für gläubige Christen der Gedenktag des Heiligen Valentin, der als römischer Priester und Bischof von Terni bezeichnet wird. Valentin wurde laut der Überlieferung um 175 nach Christus geboren und war schon in jungen Jahren als Bischof bekannt. 

Dieser Valentin soll verbotenerweise junge Paare, die sich zum Christentum bekannten, vermählt haben. Damals fanden die römischen Kaiser die Idee des Christentums nicht sehr witzig. Sie verstanden wohl die Grundgedanken des Monotheismus nicht oder konnten mit den Aussagen Jesu („liebe deinen Nächsten und halte ihm die andere Backe hin“) nicht viel anfangen. Valentin starb aus diesem Grund den Märtyrertod. Er starb, weil er von einer Sache überzeugt war und sich für sie einsetzte. Nicht überliefert ist, ob Valentin mehr für den Glauben oder doch eher für die Liebe einstand. Dass das eine oftmals nichts mit dem anderen zu tun hat, zeigt uns die Geschichte. Aber das ist ein vollkommen anderes Thema. 

Überliefert ist jedoch, dass unser Valentin einen Garten hatte. Jedes Mal, wenn er wieder verbotenerweise ein Liebespaar traute, pflückte er in seinem Garten ein paar Blumen und schenkte sie den Liebenden. Das Cleverle hat sozusagen ganz nebenbei noch den Brautstrauß erfunden! Floristen aller Welt verneigt euch vor diesem Mann. Er legte vor knapp 2000 Jahren den Grundstein für eine ganze Berufssparte. Ob er sich bewußt war, dass zu heutigen Zeiten an diesem Tag eine rote Rose knapp 10 Euro kosten muss, ist ebenfalls ein vollkommen anderes Thema. 

Nur eines sei angemerkt: Valentin VERSCHENKTE die Blumen. Konnte er ja auch locker. Er musste schließlich nicht die überteuerten Blumen auf dem römischen Großmarkt kaufen.

Unser Valentin überreichte also dem Brautpaar die Blumen als sichtbares Zeichen ihrer Liebe und nachdem die beiden endlich verheiratet waren, durften sie sich auch der Familienplanung widmen. Die Urchristen nahmen es nämlich sehr ernst mit dem Verbot vorehelicher Vergnügungen. Schließlich drohten Hölle und Verdammnis oder noch schlimmer: krumme Rücken, Blindheit und Schwimmhäute zwischen den Fingern. Das Risiko der ewigen Verdammnis war im Vergleich zum kurzen Höhepunkt doch ziemlich groß und die Internetsuchmaschine, die die Leute hätte aufklären können, noch nicht erfunden. Früher war nun wirklich nicht alles besser!

Die Erwartungshaltung, nach Übergabe des Blumenstraußes und einem gemurmelten „Lieb’ dich“, auf abendlichen Spaß, hat sich allerdings 2000 Jahre lang gehalten.

Überhaupt ist das so eine Sache mit der Erwartungshaltung. Sie ist durchaus bei allen Geschlechtern zu bemerken. Viele Frauen erwarten einen Blumenstrauß. Kommt der nicht spätestens mit dem heimkehrenden Partner, kommt der Partner mindestens zwei Monate auch nicht. Also kommt der Partner nach Feierabend in den Blumenladen und sucht nach einem Gebinde, das die Angebetete dann hoffentlich gnädig annimmt. Wenn er vorab nichts vorbestellt hat, muss er nehmen was noch da ist und geht damit ein enormes Risiko ein. 

Wenn er nicht aufpasst, die falschen Blumen aussucht oder sogar vollkommen vergißt, ergeht es ihm wie dereinst unserem Valentin. Er stirbt den Märtyrertod.

Der Valentinstag ist wahrhaftig nichts für Weicheier.

Soweit also die Historie um den heiligen Valentin. Der religiöse Hintergrund hat sich mal all den Jahrhunderten ziemlich verwässert. Geblieben sind die liebevollen Gesten, mit denen sich Paare an diesem Tag begegnen. Und wenn man ein klein wenig darüber nachdenkt, dann merkt man ganz schnell: es ist ziemlich öde, sich nur auf diesen einen Tag im Jahr zu beschränken. Der heilige Valentin vermählte schließlich auch an vielen anderen Tagen im Jahr die Liebespaare. 

Also liebe Leser: schenkt euch Blumen, Herzen und liebevolle Gesten an jedem nur erdenklichen Tag. Sagt euch, dass ihr euch lieb habt und erwartet keine Gegenleistung.

Dazu braucht es wirklich keinen Extra-Tag im Jahr.

Der Valentinstag soll euch nur daran erinnern, auch in manch schwerer Zeit füreinander einzustehen.

Text: A. Müller

Nikolaus

„Warst du denn auch immer lieb und folgsam?“ fragt der dicke bärtige Mann das Kind und schaut mit strengem Blick über den Rand seiner runden Brille. Das Kind senkt schüchtern den Kopf, wagt kaum zu atmen. Schließlich stehen alle seine Missetaten im dicken Buch, das der dicke Mann bei sich trägt. Ergeben wartet das Knd auf das Urteil, hofft, es fällt milde aus. Schließlich wurde ihm gesagt, der Dicke würde alles wissen. wirklich ALLES!

Der Dicke blättert in den Seiten, brummt und nuschelt dann durch seinen schlohweißen Bart: „Ich lese hier, du warst nicht immer so folgsam wie gewünscht. Ich muss sagen: das gefällt mir. Bewahre dir Deinen eigenen Kopf, deine eigenen Gedanken. Sei anstrengend und frage stets nach, wenn du etwas nicht verstehst. Plappere auch weiterhin niemals irgendetwas nach, nur damit andere mit Dir zufrieden sind. Und merke Dir: sei immer Du selbst! Das ist schon schwer genug. Du musst es niemanden recht machen, damit du geliebt wirst. Aber halte dich dennoch an ein paar Regeln: sei freundlich und wertschätzend zu allen Lebewesen, schau, ob du jemandem helfen kannst und urteile nicht zu schnell.“

Schönen Nikolaustag euch allen

Der erste Schultag

Regnerisch ist es an diesem Samstagmorgen. Ein frischer Wind weht durch die Gassen der kleinen Stadt und treibt trockenes Laub vor sich her. Eigentlich würde Amelie an so einem Tag lieber noch eine Stunde im Bett bleiben und sich eines ihrer Bilderbücher anschauen, aber heute geht das nicht.

Heute ist nämlich ihr erster Schultag. 

Der Schulranzen steht schon fertig bepackt neben ihrer Schultüte im Flur und Amelie kann es kaum erwarten, sich beides zu schnappen und endlich in die Schule zu gehen. Es fühlt sich gut an, kein Kindergartenkind mehr zu sein. Jetzt gehört sie auch zu den Großen! Amelie stellt sich vor, wie es ist, wenn sie bald selbst in ihren vielen Büchern lesen kann. Mama und Papa haben nämlich nicht immer Zeit zum vorlesen, manchmal dauert es ziemlich lange, bis einer der beiden seine Aufgaben erledigt hat und es sich mit ihrer Tochter auf dem Sofa bequem machen kann. 

„Wenn ich selbst lesen kann, brauche ich nicht so lange zu warten,“ freut sich Amelie und hüpft aus ihrem Bett. „Aufstehen Leute, es ist erster Schultag!“ ruft sie in das noch stille Haus. 

Bevor es jedoch losgehen kann, muss Amelie noch ein bisschen warten. Es dauert heute noch viel länger als sonst, bis alle in der Familie aufgestanden und bereit für diesen besonderen Tag sind. „Aufstehen, ihr lahmen Enten!“ ruft Amelie deshalb noch einmal und etwas lauter als zuvor. Endlich regt sich etwas. Mama und Papa reiben sich verschlafen die Augen und schälen sich langsam aus ihren Decken und auch Mara, Amelies jüngere Schwester schlägt endlich die Augen auf. Jetzt kann der Tag beginnen!

Eine Weile muss sich Amelie noch gedulden, aber dann sind alle aus der Familie geduscht und angezogen, Zöpfchen geflochten und Spängchen im Haar verteilt. Der erste Schultag ist schliesslich ein besonderer Tag und alle kleiden sich besonders feierlich. Jetzt noch schnell die Jacken angezogen und die Mützen aufgesetzt und es kann losgehen.

Gemeinsam macht sich die Familie zu Fuß auf den Weg. So kann Amelie schon mal ihren neuen Schulweg üben. 

Die erste Station ist die Kirche. Dort treffen sich alle zu einem kurzen Gottesdienst. In der Kirche sitzen sehr viele Leute. Omas und Opas, Onkel und Tanten, Geschwisterkinder und Freunde; alle wollen die Schulanfänger an ihrem besonderen Tag begleiten. Es wird zusammen gesungen, gebetet und gelacht. am Ende verspricht der Pfarrer, dass die Kinder nie alleine sein werden. Es wird immer jemand da sein, der ihnen hilft. Dieser jemand sei Gott. Amelie ist sehr erleichtert, denn ein kleines bisschen macht ihr der neue Abschnitt in ihrem Leben auch Sorge. Aber wenn sogar Gott auf die Kinder aufpasst und ihnen hilft, dann kann ja eigentlich nichts schiefgehen. Sie schaut sich verstohlen in der Kirche um, aber sie kann Gott nirgendwo entdecken. Amelie würde gerne länger über Gott nachdenken, aber nun ist der Gottesdienst zu Ende und alle Familien gehen den kurzen Weg zum Schulgebäude. 

In der Mensa sind viel Stühle für die neuen Schüler und ihre Familien aufgestellt, ein paar bunte Wimpel hängen von der Decke und heißen alle willkommen. 

Jetzt wird Amelie doch ein bisschen mulmig zumute. So viele Menschen, so viele fremde Kinder. Und das Schulhaus ist so groß! Ob sie sich da überhaupt zurecht findet? Im Kindergarten war es doch etwas übersichtlicher und vertrauter. Dann fällt ihr die Sache mit Gott wieder ein und sie schnauft beruhigt aus. Wenn sie sich am Anfang noch fremd fühlt und nicht so gut auskennt, kann sie ja immer noch Gott fragen. Der kennt bestimmt den Weg.

Dann krächzt und kratzt es in den Lautsprechern und eine Frau begrüßt alle neuen Schülerinnen und Schüler. Das meiste was die Frau erzählt findet Amelie ziemlich langweilig und nachdem sie unauffällig nach links und rechts geschaut hat, merkt sie, dass die anderen Kinder der Frau auch nicht zuhören. „Na ja, wenn’s wirklich wichtig ist was sie sagt, wird sie es bestimmt noch einmal wiederholen,“ denkt sich Amelie. Erst als die Frau die Geschichte von Frau Hoppel, der Hasenlehrerin erzählt, hört Amelie wieder genauer hin. Frau Hoppel hat nämlich auch ihren ersten Schultag in einer neuen Schule. Aber sie fährt in die falsche Stadt und gerät anschließend unter ziemlich großen Zeitdruck, um rechtzeitig in der richtigen Schule anzukommen. Frau Hoppel scheint ohnehin eine ziemlich hektische und chaotische Lehrerin zu sein, denn am nächsten Morgen wacht sie viel zu spät auf, um noch halbwegs pünktlich zur Schule zu kommen. Deshalb radelt sie im Nachthemd los. „Meine Güte“, denkt Amelie und reibt sich verwundert die Stirn, „hoffentlich heißt meine Lehrerin nicht Frau Hoppel. Ich fürchte, so eine Hasenlehrerin kann uns Kindern nicht viel Neues beibringen.“ 

Am Ende ist sie dann sehr erleichtert, als sie ihre echte neue Lehrerin kennenlernt. Die Frau hat ein freundliches Lächeln und scheint sich in der Schule gut auszukennen. Die Lehrerin geht mit allen Kindern der Klasse in das Klassenzimmer. Dort werden die Sitzplätze verteilt, an denen die Schüler ab nun sitzen werden. Das Klassenzimmer gefällt Amelie sehr gut. Es ist hell und freundlich gestaltet, es gibt eine große Bücherkiste mit vielen Büchern, die sie noch nicht kennt und an der Wand hängt eine große grüne Tafel. Die Lehrerin schreibt „Herzlich willkommen“ auf die Tafel. 

Dann dürfen die Kinder ihre Mäppchen aus dem Schulranzen holen und die Namensschilder, die die Lehrerin vorbereitet hat, ausmalen. Jedes Kind darf in bunten Farben seinen Namen malen. Amelie gibt sich große Mühe und malt ganz sauber und fein die Buchstaben nach. Sie wird nicht ganz fertig bis zum Ende der Schulstunde. Aber das liegt einfach daran, weil ihr Name so viele Buchstaben hat. Die Lehrerin verspricht, dass die Kinder am Montag an ihren Namen weiter arbeiten dürfen. 

Die Lehrerin klatscht in die Hände und sagt, nun wäre der erste Schultag schon zu Ende. „Das ging ja flott!“ wundert sich Amelie. Aber am Montag, nach nur zweimal schlafen, darf sie ja wieder in die Schule.

Sie gehört jetzt nämlich zu den Großen!

Text: A. Müller

Bild: A. Müller

Auf der Suche nach der Leichtigkeit des Seins

An manchen Tagen traue ich mich gar nicht das Radio oder den Fernseher einzuschalten. Die Furcht vor neuen Hiobsbotschaften wächst mit jedem neuen Tag an. Krieg, Zerstörung, Klimakrise, Entwertung des Geldes, Schwächung der Schwachen, Pandemie und die immer stärker zu Tage tretende Radikalisierung vieler Menschen machen mir Sorge und machen mich mutlos. Ich kann’s nicht mehr sehen, hören oder lesen. Überall auf der Welt brodelt es und die Unsicherheiten nehmen immer stärker zu.  Ich wünsche mich zurück in die Zeiten als ich Kind war und es immer jemand gab, der mich tröstete, schützte und mir versicherte: alles wird gut. So kratze ich dann den letzten Rest meiner Zuversicht zusammen und fahre den Rechner hoch, in der Hoffnung wenigstens im Internet, irgendwo in einer versteckten Ecke, unscheinbar und klein, einen Hoffnungsschimmer zu finden. Es muss ihn doch geben, den Silberstreif am Horizont, jener Schimmer, der mir hilft, den Glauben an die Welt nicht zu verlieren. Obwohl, es ist weniger die Welt an sich, als vielmehr die Menschen, die auf ihr leben, die mich so verängstigen. Die Welt selber ist einfach nur da. Umrundet die Sonne und dreht sich dabei im Kreis. Es wird ihr nicht mal schwindelig während sie durchs Weltall rast. Chapeau, denke ich. Schon cool, wie die blaue Kugel ihre Bahn beibehält. Könnten wir uns mal ne Scheibe von abschneiden. 

Stattdessen straucheln wir, also die Menschheit im Gesamten und immer mehr Menschen im Einzelnen. Wir straucheln und stolpern und rennen irgendwie blindlings durch die Gegend. Ohne Ziel und oft auch ohne Verstand, aber immer dem Geld hinterher.

Wir haben im Laufe der Zeit Naturgesetze entschlüsselt und neue Technologien entdeckt, die uns das Leben spürbar erleichtern. Irgendwann in vergangenen Zeiten hat ein findiger Vorfahre bemerkt, um wie viel einfacher Dinge transportiert werden können, wenn man zwei runde Scheiben mit einer Achse verbindet. Ein Meilenstein in der Entwicklung der Menschheit, gar keine Frage. Was daraus geworden ist, können wir jeden Tag beobachten, wenn wir auf dem Weg zur Arbeit sind, Die Räder stehen still. Wir haben’s übertrieben. 

Die Sache mit dem Übertreiben scheint sich quer durch alle Zeitalter zu ziehen. Kaum gibt es eine neue Erfindung, wird sie exzessiv genutzt. Kurz nachdem der Buchdruck erfunden war und damit der Verbreitung von Wissen Tür und Tor geöffnet, kamen auch schon ein paar Leute um die Ecke, die nicht Wissen vermitteln wollten, sondern ihre Schriften zum Zwecke der Rebellion veröffentlicht haben. Als immer mehr Menschen des Lesens kundig wurden, war’s vorbei mit dem Glauben an das Gute in der Welt. Irgendwo tauchte immer eine Schrift auf, die Zweifel säte, Wut entfachte oder Ängste schürte. Das ist bis heute so geblieben. 

Der uralte Kampf von Gut gegen Böse ist mit der Zeit immer komplexer geworden. Vielleicht war er das ja schon immer und ich hab’s früher einfach nicht bemerkt. Wer ist Gut? Wer ist Böse? Kann das Böse auch ein Stückchen gut sein und umgekehrt? Ehrlich gesagt, habe ich den Überblick verloren. Das haben wir jetzt davon. Geschriebenes Wort, gedruckt oder auf dem Bildschirm, kann so verwirren. Die Klarheit sitzt irgendwo versteckt hinter einem Busch im Wald und traut sich nicht mehr raus. So ein Pech aber auch!

Allerdings muss man der Fairness halber sagen, dass ohne den Buchdruck und ohne die Möglichkeit geschriebenes Wort zu verbreiten, Millionen von wunderbaren Büchern nicht geschrieben worden wären und die damit verbundene Hoffnung auf eine bessere Welt, niemals fruchtbaren Boden erreicht hätte.

Kurzum: fast jeder Erfindung in der Vergangenheit lag der Wunsch nach Verbesserung zugrunde. Das Negative, dass was uns dann stolpern und straucheln liess, kam meist en passant dazu.

Die größten Veränderungen, und da erzähle ich euch ja nichts Neues, gab es in den vergangene 100 – 150 Jahren. Von der industriellen Revolution bis zu schnelleren Kommunikationsformen; von der Verbesserung der Lebensumstände bis zu umfassenden Möglichkeiten der Bildung für alle, von der immer ausgefeilteren Technik bis zur Eroberung des Weltalls: es war und ist alles dabei, was wir uns vorstellen können.

Ob uns diese Entwicklung insgesamt gut tut, mag jeder selbst überdenken. Ob sie uns gut getan hat, werden kommende Generationen entscheiden.

Die heute noch Ungeborenen werden mit erhobenen Fingern und einem gerüttelt Maß an Überheblichkeit in die Vergangenheit zeigen und uns für unser Handeln verurteilen. So, wie wir vorangegangenen Generationen auch verurteilen. Wir zeigen mit den Fingern auf die Massenmörder des Holocausts, auf die Untaten der Kirchen, auf die unrechtmäßigen Eroberungen und Unterdrückungen von indigenen Völkern. Wir empören uns laut (und zu Recht) über die Verfehlungen in der Vergangenheit.

Aber wir lernen nichts daraus. 

Wir lernen nichts daraus, weil man Fehler selber machen muss, um daraus zu lernen. 

Das ist das Problem.

Statt uns darüber klar zu werden, verplempern wir lieber unsere Zeit damit, mit dem Finger auf andere zu zeigen.

Ich finde, es wird Zeit für eine neue Erfindung. Der Erfindung, wie man es, jeder für sich und alle zusammen, schafft, es endlich endlich besser zu machen. 

Ansätze gab und gibt es ja schon genug. 

Man weiß z.B. seit den 70er Jahren, wie man die menschengemachte Klimaveränderung verlangsamen könnte. 

Man weiß mittlerweile auch, wie viel Energie und wie viele Ressourcen weltweit für die Massentierhaltung verplempert werden und wie wenig Menschen letztendlich davon profitieren.

Stattdessen wird an der Börse über den Anstieg oder Fall von Weizen, Gas, Öl und anderen Ressourcen gewettet. Einige werden damit stinkereich, andere haben halt nichts zu beissen und hocken in ungeheizten Wohnungen. In Teilen der Welt kämpfen die Menschen gegen Adipositas, Diabetes, Gelenkproblemen mangels Bewegung oder gegen Gefässkrankheiten. In anderen Teilen sterben sie einfach an Unterernährung.

In der Theorie gilt ja immer noch das Prinzip der Solidarität. Die Starken helfen den Schwachen. In der Praxis stützt die Masse der Schwachen das System der Starken. Den Rest regelt der Markt.

Das ist es, was mir solche Angst einjagt, was mir den Schweiß auf die Stirn treibt und mich Nachts nicht schlafen lässt.

In all unserem Wissensdurst und unserem Tatendrang, in all unserem Erfindergeist sind wir immer noch von uralten Strukturen durchwebt. Das Gesetz des Stärkeren gilt auch und gerade in diesen Zeiten. Gleichzeitig wird der Drang zu einer echten Veränderung immer größer. Immer mehr Menschen fragen sich, ob wir so wie bisher weitermachen können. Oder dürfen. Es ist ja nicht nur eine Frage der wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch eine der Ethik.

Oder schaffen wir einfach Ethik und Moral komplett ab und wirtschaften den Planeten vollends zugrunde?

Wir werden uns entscheiden müssen.

Bis dahin wird die Sehnsucht uns, euch und mich, täglich begleiten. Die Sehnsucht nach der Leichtigkeit des Seins. Die Sehnsucht danach, dass es (was auch immer „es“ ist) gut wird und dass wir es doch schaffen, aus unseren Fehlern zu lernen.

Text: A. Müller

Über die Menschlichkeit

Früher, also damals in Zeiten meiner Jugend, als ich noch voller Idealismus und gutem Willen war, früher also, stellte ich mir vor, die Welt zu einem friedlicheren Ort machen zu können. Nicht ich allein, versteht sich. Es war mir schon klar, dass es für die Lösung dieser Aufgabe Mitstreiter bräuchte. Leute, die ebenso wie ich daran glaubten, dass Aufrüstung, Atomwaffen, Streit, Nationalismus und Ausbeutung der falsche Weg in die Zukunft sind. Gemeinsam wollten wir friedlich die Grenzen unterschiedlicher Religionen, Hautfarben und Herkünften entfernen. Es sollte nie wieder eine Rolle spielen, woher jemand kam, wie er aussah oder sprach. 

„We are the world, we are the people“ sangen wir, und wir meinten es ernst. 

Menschlichkeit, so war unsere Definition, muss alle Menschen auf der Welt einschließen, nicht nur diejenigen, die aus unserem Kulturkreis stammten. Wir verbanden den Begriff mit positiven Eigenschaften des menschlichen Handelns, mit Fürsorge, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. 

Wir wollten es besser machen als die Altvorderen. Keiner sollte mehr in die Abgründe der gemeinschaftlichen Hölle hinabfahren, keiner sollte mehr in den tödlichen Strudel von Hetze und Widerwärtigkeit gesogen werden. Keiner sollte mehr von Lügen geblendet und zu schrecklichen Taten verleitet werden. Keiner!

So jedenfalls war der Plan.

Wir haben’s vergeigt, so könnte man meinen.

Wir glaubten daran, wenn es allen Menschen gut ginge, jeder zu essen hätte, ein gemütliches Zuhause und keine Zukunftssorgen, dann gäbe es auch weniger Grund sich untereinander zu streiten. In unserem guten Glauben und in unserer Vorstellung, in unserer grenzenlosen Naivität haben wir ein paar Sachen überhaupt nicht bedacht. Dabei hätten wir uns doch nur mal kurz an die eigene Nase fassen müssen.

Die Menschlichkeit, so wie wir sie definierten, war nämlich nur eine Seite einer Medaille. In unserem Enthusiasmus betrachteten wir nur die golden schimmernde Oberfläche, jene, die uns auf gewisse Weise blendete und uns den Blick auf das ganze menschliche Wesen nahm. Wir schauten nur auf das Gold, welches uns eine bessere Welt versprach. Die andere Seite, die, die seit Jahrtausenden im Dreck gelegen hatte, die leise aber stetig vor sich hin korrodierte; diese Seite schauten wir nicht an. Es kam uns einfach nicht in den Sinn.

Hätten wir uns nur damals schon die Mühe gemacht nachzuschauen. 

Aber genau dieses Unvermögen, unangenehme Dinge ebenso anzuschauen und sie in der Bewertung des Ganzen mit einzubeziehen, ist einer der Fallstricke der Menschlichkeit. Wir schauen in unserer Euphorie nur die schönen Dinge, jene die uns vorteilhaft erscheinen an, und wundern uns am Ende, wenn der Plan nicht aufgeht.

Jeder von uns kennt so eine Situation aus der eigenen Lebensgeschichte. 

Im Laufe der Jahre verebbte das unbedingte Streben meiner Generation nach einer besseren Welt. Ich glaube, uns ist einfach der Alltag dazwischen gekommen. Klar, wir waren immer noch irgendwie um Ausgleich bemüht, allerdings ordneten wir diesen unseren eigenen Ansprüchen immer mehr unter.

Die Medaille der Menschlichkeit drehte sich unmerklich und immer wieder blitzte die korrodierte Seite auf. Jeder schaute zuerst mal nach sich selbst, machte Karriere, bekam Kinder, baute Häuser und an Weihnachten spendeten wir dann fünfzig Euro an irgendeine gemeinnützige Organisation. 

Und immer noch kam es uns nicht in den Sinn, dass wir einerseits zutiefst menschlich, als auch absolut unmenschlich handelten.

Unmenschlich, weil wir nach der Definition der Gemeinschaftlichkeit und Fürsorge, alle anderen nicht eines Blickes würdigten. WIR wollten es zu etwas bringen im Leben, WIR wollten finanzielle Unabhängigkeit und Wohlstand, WIR wollten „besser“ sein. Kollegen, Nachbarn, Verwandtschaft oder vollkommen Fremde gingen uns da im Zweifelsfall am Arsch vorbei.

Genau dieses Handeln und Denken ist eine Spielart der Menschlichkeit. Eben die andere Seite der Medaille. Dort wo sich Gier, Neid, Egoismus oder gar Mordlust tummeln. Die Seite, die sich nur mit purer Willenskraft im Zaum halten lässt. Die Seite, die überhaupt nicht schön ist.

Wenn wir also über die Menschlichkeit sprechen, müssen wir immer auch die menschlichen Schattenseiten sehen. Wir können, das habe ich in all den Jahren endlich begriffen, wir können nicht „gut“ sein, wenn wir das Böse in uns nicht sehen wollen. 

Es ist da und es lässt sich auch nicht wegdiskutieren.

Gehen dann Nationalismus, Ausbeutung, Krieg und Streit in Ordnung, weil sie ja Teil unserer Menschlichkeit sind? 

Darüber könnte man trefflich streiten und ich bin ziemlich gespannt, was ihr dazu zu sagen habt.

Ich für meinen Teil versuche, „meine“ dreckige Seite der Medaille nicht allzuoft zu zeigen, nicht nur meinen eigenen Vorteil, sondern den der Allgemeinheit im Blick zu haben. 

Das jedenfalls ist der Plan.

Hoffentlich vergeig’ ich’s nicht.

Text: A. Müller

Die Entdeckung der Langsamkeit, oder: was’ne Krücke!

Teil 1

Keine Sorge, dieser Text wird kein „Mimimi, alles so blöd, mimimi!“-Text werden, dennoch nutze ich sowohl die auferlegte freie Zeit, als auch mein Stadium der eingeschränkten Mobilität, mal wieder ein paar Buchstaben in die Tastatur zu hämmern.

Ihr habt es schließlich so gewollt. Oder nicht?

Für diejenigen, die meine Texte unregelmäßig lesen (wieso eigentlich?) eine kurze Info vorweg. Ihr müsst ja schließlich wissen, um was es geht: Eines meiner beiden Knie wurde seiner Arbeit leid und versagte mir den Dienst. Grundsätzlich gestehe ich meinen Körperteilen durchaus ein gewisses Eigenleben zu, ja ich unterschreibe sogar ab und zu einen Urlaubsantrag, wenn das Hirn  zum Beispiel mal eine Auszeit braucht. Wenn jedoch tragende Säulen, und als diese darf so ein Bein mitsamt seiner Gelenke durchaus bezeichnet werden, wenn also tragende Säulen zu bröckeln beginnen, dann ist Not an der Frau, dann muss gehandelt werden. Der Zeitrahmen in dem ein Handeln sinnvoll erscheint, ist in meinem Fall ein möglicherweise größerer als bei jemand anderem. Wenn’s irgendwo zwickt, ignoriere ich das einfach. Es ist von allein gekommen, also geht’s auch von allein wieder; so war bislang meine Devise.

Ihr merkt schon: ich arbeite aktiv an der Legende zu meinem künftigen Heldenstatus der Unverwundbarkeit. Vielleicht bin ich aber auch bloss ein bissle blöd. Sucht euch das passende aus; in meinen Texten soll Raum für freies und eigenständiges Denken sein.

Aber ich schweife ab. Möglicherweise liegt das an den feinen Schmerztabletten, die mir der Arzt verordnet hat. Kritiker könnten natürlich auch die immer wieder kehrende Strukturlosigkeit in meinen Texten anmerken. Und schon wieder ist euch Raum für freies Denken gegeben!

Also, weiter im Text: eine meiner ersten Handlungen, als das Knie längerfristig seinen Dienst versagte, war, einen Orthopäden aufzusuchen. Nach einigen Untersuchungen und konservativen Therapien stand fest: das Gelenk muss operiert werden. Die postoperative Erholungszeit wurde mit ungefähr zwölf Wochen veranschlagt. Neun davon muss ich an Krücken gehen.

Na super!

Mein Mann sagt ja immer, es würde „Gehhilfe“ heißen. „Krücke“ hätte eine negative Konnotation. Mir ist der Begriff „Krücke“ dennoch lieber, denn ich bin schließlich meiner Bewegungsfähigkeit einschneidend beraubt, mehr noch; ich empfinde es als höchst negativ, dass die Leute in meinem Umfeld im Moment so viel Rücksicht nehmen müssen und ich Hilfe für die alltäglichen Kleinigkeiten in Anspruch nehmen muss. 

Ich bin sozusagen die personifizierte Krücke. Wenn auch nur temporär, aber immerhin. Von den veranschlagten neun Wochen sind nun ziemlich genau vier vergangen. Es fühlt sich jedoch viel länger an. Vier Wochen mehr oder weniger sitzend auf der Couch zu verbringen, ist eine verlockende Aussicht wenn man sich im beruflichen Alltag nach Ruhe sehnt. Wenn man sich dann ganz real auf dem Sitzmöbel den Hintern breit sitzt, merkt man schnell, dass das doch nicht so toll ist. Mir jedenfalls tut der Hintern mehr weh als das operierte Knie.

Vor der Operation führte ich ein ganz normales autonomes Leben. Ich war es gewohnt, alle anfallenden Arbeiten selbst zu erledigen, hatte einen uneingeschränkten Bewegungsradius und war in der Lage selbstständig auf’s Klo zu gehen. Alles war normal und bis zur Operation keinen weiteren Gedanken wert.

Ein Umdenken und der damit verbundene Wechsel der Perspektive bahnte sich jedoch schon in der Klinik an. Ich durfte drei Tage lang mein Bett kaum verlassen. Wenn ich zur Toilette wollte, musste mich eine Schwester begleiten. Das kranke Bein, fest in eine starre Manschette gewickelt, durfte unter keinen Umständen belastet werden. 

Einerseits war es mir entsetzlich unangenehm, ständig nach dem Pflegepersonal zu klingeln. Die haben nämlich ziemlich viele Patienten zu versorgen. So viele, dass sie ihr Pensum nur im Laufschritt schaffen. Die Vorgabe der Schwestern war daher glasklar: bitte nur klingeln, wenn es wirklich dringend ist. 

Ich kann nur sagen: wenn man bei Sommertemperaturen viel trinkt, dann ist es halt oft mal ganz dringend. 

Also klingelte ich und war unsäglich dankbar, ja geradezu erleichtert, wenn mich jemand zur Toilette begleitete.

Wie muss es also jemandem gehen, der/die nicht nur temporär auf derartige Hilfestellung angewiesen ist? Gewöhnt man sich daran? Wird die Dankbarkeit dem Helfenden gegenüber irgendwann zur Normalität? 

Ja, überhaupt: wie sehr verändert die Immobilität und die Notwendigkeit von helfenden Händen das eigene Ich?

Nach nunmehr vier Wochen an meinen Krücken, habe ich schon ein wenig Einblick in diese Veränderungen gewonnen. Mit meinen Krücken verbindet mich eine Art Hassliebe. Einerseits sind sie mir ständig im Weg und wenn ich nicht höllisch aufpasse, stolpere ich über die Dinger. „Gehhilfe“! Pah, das ich nicht lache! „Stolperstecken“ wäre ein treffenderer Ausdruck. Zum Glück springe ich nicht über jedes Stöckchen, das mir hingehalten wird. Ich versuche standhaft zu bleiben und über den kleiner gewordenen Horizont hinaus zu blicken. Geübte Leser erkennen an dieser Stelle das Wortspiel. Den anderen bleibt Raum zum selber denken.

Andererseits, wenn ich mal nicht über die Krücken stolpere, bin ich sehr froh, mich an ihnen festzuhalten, mich auf sie zu stützen. Durch sie wird mir im Moment wenigstens ein wenig Fortbewegung und Eigenständigkeit zuteil. Und wenn es nur der Gang auf die Terrasse ist, um eine Zigarette zu rauchen. So viel Autonomie muss sein. 

Die Fortbewegung findet also durchaus statt. Eben langsam, genauer gesagt, quälend langsam.

Krücken nach vorne – Schritt- Pause

Krücken nach vorne – Schritt – Pause

So kann eine Strecke von ein paar wenigen Metern durchaus etwas langatmig werden.

Ihr könnt froh sein, dass ich wesentlich schneller schreibe als ich an meinen Krücken gehe. Sonst wäre dieser Text eine Tortur.

Vor der Operation wurden mir viele gute Wünsche zuteil. „Mal einen Gang runter schalten.“, „die Dinge etwas langsamer angehen zu lassen.“, „gönne dir Ruhe und Entspannung.“ „lass dich mal umsorgen und bedienen.“ All diese gut gemeinten Wünsche habe ich dankbar angenommen. Ich habe mich ehrlich gefreut, wie viele Menschen mir wohl gesonnen sind.

Wie schwer es mir jedoch fallen würde, mich umsorgen zu lassen, mich zu entspannen, mal einen Gang runterzuschalten, hätte ich nicht gedacht. Überhaupt: „entspann dich mal“ ist im Moment ein Satz, der durchaus Sprengkraft hat. Der Kopf hat z.B. schon längst die Strecke zum Auto oder sonst wohin erledigt, während der Körper noch mit den motorischen Feinheiten der neuen Fortbewegung hadert. Kommt also in diesem Moment der wohlmeinende und zur Befriedung der Situation gedachte Satz, ich möge mich doch mal entspannen, so spüre ich ein deutliches Zucken in meinen von Krücken bewehrten Händen. 

Auch ein Vorteil. Durch die Krücken habe ich größeren Abstand zu meinen Zeitgenossen bei gleichzeitig erhöhter Reichweite. Die Standfestigkeit muss natürlich noch erprobt werden, aber ich hab’ ja noch ungefähr fünf Wochen Zeit. 

Also alles ganz entspannt.

Aber im Ernst: Hilfe anzunehmen ist gar nicht so einfach. Oftmals ist man ja in der eigenen Art, etwas zu erledigen, gefangen. Wenn nun der Helfende die Aufgabe anders angeht, und das tut derjenige in 99 von 100 Fällen, dann muss man ihn/sie einfach mal machen lassen ohne selbst zu maulen und zu meckern. Man muss ein wenig von seiner Eigenständigkeit abgeben und darauf vertrauen, dass die Dinge sich schon irgendwie ineinander fügen.

Schließlich wäre es äußerst unfreundlich den fleißigen Helfern immer mal wieder eins mit der Krücke überzuziehen. Atmen, vertrauen und im besten Fall selbst was lernen ist die eindeutig bessere Option, mit der Situation zurecht zu kommen.

Nach nunmehr vier Wochen an meinen Stolperstecken, habe ich durchaus gelernt Hilfe anzunehmen. Freilich gefällt mir die Situation insgesamt nicht, aber ich finde dennoch an manchen Dingen durchaus Gefallen. 

Zum Beispiel werde ich jeden Tag bekocht. All jene, die wie ich an einer ausgeprägten Küchenallergie leiden, verstehen sicher die entlastende Wirkung. Ich muss mich im Moment einfach nur an den gedeckten Tisch setzten, essen, und im Anschluss auf die Terrasse humpeln um „die Zigarette danach“ zu rauchen. Daran könnte ich mich glatt gewöhnen.

Es gibt jedoch auch Dinge, an die möchte ich mich nicht gewöhnen. Sie waren mir bislang auch gar nicht bewußt und gehören daher zum großen Thema des Perspektivenwechsels. 

So eine Knie OP macht den postoperativen Gang zum Arzt  unumgänglich. Und weil der Arzt nun mal nicht im Freien auf der Strasse praktiziert, muss ich eine mehr oder weniger kurze Strecke zur Praxis zurücklegen. Wildfremde Menschen bleiben stehen, manche mustern mich von oben bis unten, andere stellen Fragen nach meinem Gesundheitszustand. Wieder andere erzählen mir ihre eigene Gesundheitsgeschichte, während wir gemeinsam an einer Fußgängerampel stehen. 

Und wieder zuckt es verdächtig in meinen von Krücken bewehrten Händen. Wegrennen kann ich ja gerade nicht.

Ich überlege in solchen Momenten schon, wie entlastend es sein könnte, den Glotzern und Schwätzern einfach kurz eins mit der Krücke überzuziehen. 

Wenn ihr also demnächst auf jemanden trefft, der in seiner Mobilität eingeschränkt ist….. aufpassen! Es könnte ich sein.

-Fortsetzung folgt-

Text: A. Müller

Geistreiche Gedanken eines bekannten Trios

„Holy, du musst jetzt langsam mal los. Bist schon spät dran. Die warten doch auf dich.“ Der Vater macht eine auffordernde Handbewegung. „Los jetzt. Beeil dich!“ 

„Och nöö! Kann das nicht JC machen?“ Holy dreht sich unwillig vom Vater weg und hofft, wenigstens dieses Mal die ungeliebte Aufgabe delegieren zu können. „Kommt überhaupt nicht in Frage!“ JC beißt in sein Frühstücksbrötchen, wischt sich die Krümel aus dem Bart und lehnt sich demonstrativ in seinem Stuhl zurück. „Mir tun immer noch die Hände weh.“

Der Vater schüttelt den Kopf. „Jungs, wie oft muss ich euch das eigentlich noch sagen? Wir sind ein Team! Jeder hat seine Aufgaben. Also Holy: stell dich nicht so an und mach endlich, dass du los kommst!“

„Aber es ist so ungerecht,“ jammert Holy. Er hätte nicht übel Lust, mit dem Fuß aufzustampfen. Leider war er aus Gründen dazu nicht in der Lage. „Es ist so dermaßen ungerecht! Die Leute nehmen mich überhaupt nicht wahr. Die tun so, als gäbe es mich gar nicht. Immer muss ich die schweren Sachen machen und JC kriegt die leichten Aufgaben. Das ist so ungerecht!“

Mit zwei Finger trommelt JC auf dem Tisch, seine Ader am Hals tritt sichtbar hervor und ehe er sich’s versieht verliert er den ihm nachgesagten Sanftmut. „Leichte Aufgabe?“ Er spukt die Worte förmlich in Holy Richtung. Ein paar Brötchenkrümel fliegen als Begleitung und zum Nachdruck seiner Worte gleich mit. „Leichte Aufgabe? Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?“ Theatralisch zieht er die Pantoffeln von den Füßen und zeigt Holy die noch frischen Narben. „Das hat echt weh getan. Man!“ Holy zieht die Schultern hoch. „Wenigstens hast du einen Körper. Und Freunde.“ 

Während JC sich in all den Jahren an der Seite des Vaters eine deutlich sichtbare Plautze erarbeitet hat, macht Holy die Körperlosigkeit zunehmend depressiv. Ausserdem kränkt es ihn, stets als Taube dargestellt zu werden. Jeder weiß doch, wie unbeliebt diese Vögel in den Städten sind. Man macht ihnen das Leben schwer, wo immer es nur geht und wenn ihre Zahl zu groß wird, vergiftet man sie eben. Selbst wenn er das Argument mit der Friedenssymbolik in seine Gedankengänge mit aufnimmt, so bleibt Holy dennoch äußerst unzufrieden. Der so sprichwörtliche Weltfrieden ist und bleibt ebenso körperlos wie Holy. 

Jedes Jahr versucht er sein Glück. Jedes Jahr gibt er sich wirklich Mühe. Und jedes Jahr kommt er nach getaner Arbeit unzufrieden und müde zurück zum Vater. „Ich bin über die Menschen gekommen, wie du es verlangt hast. Leider habe ich nicht viele angetroffen. Die meisten waren im Urlaub oder auf Grillfesten. Nur ein paar standen noch im Stau. Die konnte ich mir schnappen.“ 

Ob’s wohl reichen wird? 

Der Vater schüttelt den Kopf. Nein, die Ausbeute ist zu klein. Das Problem ist seit Jahren bekannt.  Die Menschheit hat sich verselbständigt, aus des Vaters Sicht ist sie ziemlich außer Kontrolle geraten. Kaum jemand scheint noch gutgläubig zu sein. 

Jeder kann plötzlich glauben was er will! Das Fanal, dass JC damals in Zusammenarbeit mit dem Vater setzte, scheint zu verblassen. In der Masse der zu glaubenden Möglichkeiten droht das Trio Vater, JC und Holy unterzugehen. 

„Vielleicht liegt’s am Angebot? Was meint ihr?“ Holy richtet die Frage mit einiger Hoffnung an seine beiden Mitstreiter. „Wir könnten doch mal wieder was Spektakuläres ins Portfolio aufnehmen.“

„Hab’ ich doch schon längst,“ brummt der Vater, „oder sind dir die Erderwärmung, die Dürren und  andere Naturkatastrophen noch nicht aufgefallen?“ 

Holy und JC wechseln einen schnellen Blick. „Jetzt, wo du’s ansprichst….“, setzt JC zögerlich an, „findest du das alles nicht ein wenig altmodisch?“ „Ja, genau!“ pflichtet Holy seinem Bruder im Geiste bei. „Das ist so, na wie soll ich sagen? So alttestamentarisch! Wir müssen, um uns besser in Szene zu setzen, frischer denken, Neues wagen, digital werden!“ 

„Stimmt,“ nickt JC, „wir müssen die Menschen da abholen, wo sie stehen.“ Hätte Holy eine Augenbraue, dann würde er sie in diesem Moment nach oben ziehen. Aber sowas von! „Du laberst auch schon diesen gequirlten Mist wie die Menschen. Wenn du das wirklich ernst meintest, würdest du ganz tief hinab steigen müssen in das menschliche Denken. Und du wärst entsetzt, wo viele der „Erleuchteten“ stehen.“ Kaum sagt er diesen Satz, überkommt ihn ein Geistesblitz. „Genau: du steigst wieder hinab. Du hast die Menschheit schon einmal gerettet.“ Sein Blick gleitet über JC. „Aber vorher gehst du ins Fitnessstudio.“

„Och nöö!“ JC wirkt nicht sonderlich begeistert. „Vater, sag doch auch mal was. Muss ich wirklich nochmal?“

Der Vater wiegt bedächtig das Haupt. Er denkt lange nach, bevor er antwortet. „Holy hat schon recht. So kann es nicht weitergehen. Und ja, JC, du hast doch noch ziemlich viele Fans da unten. Es wäre Unsinn, deine Bekanntheit nicht zu nutzen. Geh’ schön trainieren, damit du auch optisch wieder einen guten Eindruck machst. Dann sehen wir weiter.“

„Immer muss ich machen, was der Vater sagt.“ JC hat es schon lange satt. „Aber vielleicht ist es ja bald Zeit für einen Generationenwechsel.“

Das er dafür ziemlich ausgeschlafen und fit sein muss, ist ihm schon klar. Vielleicht braucht er auch ein wenig Beistand von Holy, man wird sehen.

Für’s erste fügt er sich in die Vorgaben des Vaters und setzt er sich ins Rudergerät. Die Plautze muss weg! So kann er nicht unter die Leute. 

Gemeinsam mit Holy macht er dann einen Entwurf, wie man die Menschen wieder auf den Pfad der Tugend zurück bringen könnte. Holy würde mal wieder gerne die Augenbraue hochziehen, aber er belässt es bei einem Schnauben. „JC, fang am besten bei deiner Sprache an! Pfad der Tugend sagt heute doch kein Mensch mehr! Das heißt jetzt back on track. Echt, man merkt schon, dass du schon lange nicht mehr da unten warst.“

Nun zahlt sich aus, dass Holy jedes Jahr auf’s Neue über die Menschen gekommen ist. Er ist, im Gegensatz zum Vater und JC nämlich wirklich up to date. Die beiden Himmelshocker haben in den vergangenen Jahren doch recht viel verpasst.

So ein heiliger Geist kann in gewissen Kreisen also ziemlich segensreich sein.

Holy grinst nun froh in sich hinein und macht sich auf, auch an diesem Wochenende seinen jährlichen Besuch auf Erden abzustatten. Diesmal rein aus Recherchegründen.

Aber gebt’s ruhig zu: ihr hättet ihn ja sowieso nicht wirklich wahrgenommen. Oder?

Text: A. Müller

Segnungen, Begegnungen und göttliches Clickbaiting

„Wenn Sie den Segen Gottes nicht verpassen wollen, klicken Sie bitte auf den blauen Brief, erfahren Sie mehr über die Rettung durch Gottes zweites Kommen, und Sie werden unerwartete Segnungen erhalten.“, so schreibt mir Maria Muttergottes Mutter. Dass das mit der Rettung so einfach ist, hätte ich echt nicht gedacht. Leute, wir sind nur einen Klick vom Weltfrieden entfernt!

Wobei: der Begriff „blauer Brief“ erinnert mich unangenehm an meine Schulzeit. Lag jener damals im elterlichen Briefkasten, konnte man sich wahrlich auf diverse Segnungen gefasst machen. Der Segen des Fernsehfastens zum Beispiel. Oder die Rettung vor gefährlichen Begegnungen in der Freizeit durch Hausarrest. 

Ach, was waren wir damals gesegnet! 

Ich denke noch eine Weile über den Weltfrieden nach und ob ich nicht einfach mal, stellvertretend für uns alle, auf diesen blauen Brief klicken soll, da sehe ich eine weitere Maria’sche Aufforderung: 

„Mach dir keine Sorgen, wenn du nichts hast, hast du immer noch Gott, Er ist deine einzige Stütze! Klicken bitte auf den Link und du erhältst eine Überraschung.“

Einigermaßen verwirrt versuche ich diesen Satz zu verstehen. Überlege, denke, ziehe die Stirn in Falten. Arbeitet Maria in der Zynismusabteilung des Jobcenters? Läßt sie solche Sätze im Beratungsgespräch mit Frau Müllermeierschulze los? „Ach Gottchen, Sie haben alles verloren? Job, Wohnung, Sparbuch? Ja, voll blöd, aber von uns gibt es keine Stütze. Dafür haben Sie haben ja immer noch Gott.“

Trost kann so viele Gesichter haben. Sogar Fratzenartige.

Maria ist nicht die Einzige, die im WWW ihre Hilfe anbietet. Ihre Seite steht exemplarisch für all die Rattenfänger, die sich auf anderleuts Kosten bereichern wollen. Der alte Taschenspielertrick funktioniert besser denn je. Das Geschäft mit der Verzweiflung und der Dummheit boomt wie nie zuvor. Je instabiler die Welt um uns herum wird, desto mehr Menschen suchen Rat, Hilfe und Halt. 

Zu früheren Zeiten konnte man sich sein Seelenheil mit Ablassbriefen und dicken Spenden an die Kirche erkaufen. Heute klicken wir halt irgendeinen blauen Brief an und geben unser letztes Geld für die Hoffnung auf ein besseres Leben. 

Dabei ist Spiritualität so alt wie die Menschheit selbst. Der Gedanke, es gäbe irgendwo im Universum einen, der irgendwie den Überblick über das ganze Schlamassel hat, ist ja auch ziemlich spannend. Und entlastend ist es auch: wenn all das, was auf der Welt geschieht, auf die Rechnung des großen Planschmiedes geht, dann ist der Einzelne ja nicht mehr verantwortlich. Oder zumindest nur im Rahmen der Regeln, die die Spiritualisten jeweils aufgestellt haben. Solche Regeln und Grenzen sind im Tohuwabohu eines Menschenlebens nicht ganz unwichtig; sie geben tatsächlich einen gewissen Halt. 

Wir Menschen sind eben oft genug (Welt)situationen ausgesetzt, die wir nicht selbst verursacht haben und sie auch nicht im Einzelnen bereinigen können. Man denke nur an die vielen Menschen, die Kriegen, Flucht und Vertreibung  ausgesetzt sind. Ohne die Hoffnung auf Frieden und die Heimkehr ihrer Söhne und Väter, könnten sie kaum weiter machen. 

Diese Menschen brauchen unsere tatkräftige Unterstützung und unsere Solidarität, aber keinesfalls Sprüche wie diese: „Das unbefleckten Online-Gebet wird 4 Tage lang dauern. 

Wenn Sie sich darauf freuen, klicken Sie bitte auf den Link und nehmen Sie an der Gebetssitzung teil und großer Segen wird Ihnen zuteil.“

Mensch Maria, alter Grützkopf! Von mir aus kannst du beten so lange du magst. Mit oder ohne Flecken; ist mir wirklich egal. 

Aber hör um Himmels willen damit auf, spirituelle „Lösungen“ für weltliche und äußerst komplexe Themen anzubieten. Das ist so widerlich. Aber das weißt du ja selbst. 

Was? Wie bitte? Ich soll dir auf Augenhöhe begegnen und dich da abholen, wo du stehst? Ja, stimmt. Das hab ich im Überschwang meiner Schreiberei völlig vergessen. Entschuldige.

Also versuche ich wenigstens beim Abschluss dieses Textes die Kurve zu kriegen:

Heiliger Bimbam und alle deine Mitarbeitenden im göttlichen Universum! Ich bitte demütigst um Erlösung von missionierend religiösen Online-Sekten und deren Schwachsinnigkeiten. Lass deinen Namen nicht von ihnen missbrauchen, sondern erlöse sie mit deinem heiligen Kanonenrohr auf das es scheppert in ihrem Geiste. Oder klicke einfach auf den blauen Brief.

Text: A. Müller

Muttertag

„Hältst du es wirklich für eine gute Idee, einen Muttertagstext zu schreiben?“ fragt mich der Ehemann, „ich meine, du als Muttertagsendgegnerin bist in dieser Hinsicht ja nicht besonders objektiv.“ Da hat er zugegebenermaßen schon recht, der Muttertag geht mir wirklich am Hintern vorbei. Außerdem ist er in meinem Beruf mit jeder Menge Planung, Arbeit und Überstunden verbunden. Ein Tag also, den ein fauler Knochen wie ich es bin gerne aus dem Kalender streichen würde.

Allerdings sind meine Texte üblicherweise sowieso alles andere als objektiv. Also darf ich mich völlig frei fühlen auch zu diesem Thema meinen Senf dazuzugeben. 

Die Idee des Muttertages kommt, wie könnte es auch anders sein, aus den USA. Na ja, nicht ganz, denn die Ursprünge des Muttertags lassen sich bis zu den Verehrungsritualen der Göttin Rhea im antiken Griechenland sowie dem Kybele- und Attiskult bei den Römern zurückverfolgen. Der Muttertag in seiner heutigen Form wurde dann Ende des 19.Jahrhunderts von der US-amerikanischen Frauenbewegung geprägt. Irgendwann in den 1920er Jahren schwappte die Idee auch nach Europa, bzw Deutschland und der Verband deutscher Blumengeschäftsinhaber grinste sich eins und rieb sich die Hände. 

Wann das Gaststättengewerbe ins Boot gesprungen ist, kann ich nicht sagen. Während meiner wie üblich flüchtigen Recherchen habe ich nichts dazu im Internet gefunden.

Aus der Idee, die Arbeit der Mütter zu würdigen und dieser einen angemessenen Stellenwert in der Gesellschaft zu geben, wurde ziemlich schnell eine Möglichkeit geschaffen, Umsatz zu generieren. 

Konkret bedeutet das: Frauen und Mütter, die im floralen Gewerbe oder in der Gastronomie beschäftigt sind, laufen sich an diesem Tag die Haken wund, hören sich unzählige Kundenwünsche an, binden Sträuße (genauso wie der hier, aber kleiner und billiger und bitte in rosa statt in gelb), nehmen Bestellungen an (gibt es das Kalbsschnitzel auch vegan?) schleppen Teller und Gläser und sinken am Abend völlig erschöpft in die Kissen.

Und das alles, damit Kinder und ihre verzweifelten Väter irgendwie ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen können.

AN EINEM EINZIGEN TAG IM JAHR!

Sagt mal, geht’s noch?

Meine Zeit als aktive Mutter ist schon längst vorbei. Mein Sohn ist erwachsen und mittlerweile selbst Vater zweier bezaubernder Kinder. Als er noch klein war, habe ich viel von ihm erwartet. Dankbarkeit jedoch, Dankbarkeit war nie unter meinen Erwartungen. 

Ein Kind sollte seinen Eltern nicht dankbar sein müssen! Wofür denn auch? Für Nahrung, Kleidung, Fürsorge etwa? Nein, ganz bestimmt nicht. Man kann doch nicht für etwas dankbar sein müssen, dass man nicht selbst gewählt hat. 

Je älter ein Kind wird, desto eher ist es in der Lage, die Arbeit seiner Eltern (und eben nicht ausschließlich der Mütter) wertzuschätzen. Aber Dankbarkeit? Nein.

Überhaupt: ist der Muttertag nicht irgendwie ein Relikt aus alten Zeiten? Zeiten, in denen üblicherweise die Frauen sämtliche Hausarbeiten erledigten und alleine für die Kindererziehung zuständig waren. Damals, als die Männer sich nach Feierabend von ihren Frauen bedienen ließen und ruhige, adrett gekleidete Kinder artig auf der Couch sitzen mussten. 

Klar, dass die Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts irgendwann mal die Schnauze voll hatte, trotzig aufstampfte und rief: „Aber wenigstens EINMAL im Jahr könntet ihr gefälligst dankbar sein!“

Der Aufruf richtete sich also mehr an die Männer als an die Kinder. 

Im Laufe der Jahrzehnte haben die Männer viel dazu gelernt. Mittlerweile ist die Aufgabenverteilung innerhalb der Familien insgesamt doch ziemlich ausgewogen. Väter wickeln ihre Kinder, stehen Nachts auf und wiegen das weinende Baby wieder in den Schlaf, nehmen sich Zeit für Haushalt und Kinder. Manche bleiben auch ganz zu Hause, während die Ehefrau ihrem Beruf nachgeht.

Frauen sind unabhängiger, verdienen ihr eigenes Geld. Manche wuppen Job, Familie, Haushalt und Hobby, ganz ohne einen Mann an ihrer Seite. 

Aus den abhängigen Mäuschen der letzten Jahrhunderte haben sich starke Frauen entwickelt. Frauen, die wissen was sie können. 

Super Sache, oder?

Warum hängen wir also einer längst überkommenen Tradition nach? Schenken Blumen an diesem einen Tag oder laden die Mutti ins teure Restaurant ein? Lassen (im sowohl übertragenen als auch im konkreten Sinn) andere Frauen schuften, um irgendwie seine Schuldigkeit getan zu haben?

Weil wir Gewohnheitstiere sind. Weil man das so macht. Weil… ja eben weil halt!

Nix gegen das Schenken generell! Kleine Aufmerksamkeiten und Gaben öffnen Türen und Herzen.

Wird die Schenkerei (wie am Valentinstag oder an Weihnachten auch) nun jedoch auf einen bestimmten Tag konzentriert, ist es eher so, als würde man seiner „Pflicht“ genüge tun.  Außerdem treibt es die Preise in die Höhe. Das nur am Rande, weil ich gestern unzählige schroffe Fragen, bezüglich der Preisgestaltung unserer Werkstücke beantworten musste. 

Schenken, Liebe und Wertschätzung zeigen, ist auf jeden Fall keine Frage des Budgets. Ein Sträußchen von der Wiese ist manchmal viel wertvoller als der teuerste Floristenstrauß.

Ein angebrannter Toast zum Frühstück mit Marmeladenklecksen auf Finger und Schlafanzug, herzerwärmender als ein nobles Dreigängemenü.

So. Nun könnt ihr selbst überlegen, wie ihr zukünftig mit traditionellen Gedenktagen wie es der Muttertag einer ist, umgehen wollt.

Auf jeden Fall gibt es noch weitere 364 Tage im Jahr, um eure Wertschätzung und eure Liebe zu zeigen. 

Ich ruh’ mich jetzt aus. Morgen kommen nämlich all jene mit einem schlechten Gewissen in den Laden, die den heutigen Tag verschnarcht haben.

Habt einen sonnigen Sonntag!

Text: A. Müller

Die Summe der einzelnen Teile

Folgender Text wird Elternherzen höher schlagen lassen.

Doch ja, da bin ich mir sicher. In Zukunft müssen Mütter und Väter nicht mehr so viel Zeit aufwenden, um auf das Wohlergehen ihrer Kinder zu achten. Vorbei die Sorge um heile Gliedmaßen, lebenswichtige Organe und dergleichen mehr. Es ist alles da und auf Lager!  In einem noch unbekannten Discounter werden nämlich bald Kinderteile zum Verkauf angeboten. Entspannung pur für Erzieher und wagemutige Kinder gleichermaßen! Wenn was kaputt geht, kann es ohne großen Aufwand ersetzt werden. Also entspannt euch, lehnt euch zurück und trinkt einen Mojito.

Wir kennen das ja alle: kurz nach der Niederkunft besingen Eltern, Omas und Opas, Tanten und Onkel das vermeintliche Wunder der Geburt. Ein Jauchzen und Frohlocken über das perfekte Baby ist auf allen Kanälen zu vernehmen. 

Mit der Zeit jedoch, wenn sich der Glückstaumel legt und der rosarote Nebel sich verzogen hat, wird die Mängelliste bezüglich des neuen Familienmitglieds immer länger. Die Angaben in der Betriebsanleitung zu Schlaf- und Brüllzeiten weichen zum Beispiel deutlich von der Realität ab, dasselbe gilt für Nahrungsaufnahme und -verträglichkeit. Selten wird geliefert was bestellt wurde. Man hat den Eindruck, dass der Hersteller seine Produkte höchst fahrlässig durch die Endkontrolle schleust. „Auf Herz und Nieren geprüft“? Vergesst solche Behauptungen. Die Realität sieht komplett anders aus. Schaut euch doch mal um; Millionen müder Elternaugen sprechen für sich. Das Schlimme ist ja, dass sich bei den meisten Kindern so eine Art Eigenleben entwickelt und daher die Freizeit der Eltern unglaublich einschränkt. Ständig die Sorge um Unversehrtheit, das Überlegen, was aus den Gören mal werden soll…

Ihr kennt das.

Ein findiger Geschäftsmann hat sich nun der vielfältigen Probleme junger und älterer Eltern angenommen. Ganz im Sinne des Upcycling und des Klimaschutz.

Möglicherweise ist der Geschäftsmann aber auch nur ein eifriger Leser Mary Shelleys. Diese Spekulation wird noch gründlicher zu recherchieren sein und daher in diesem Text nur eine Randnotiz bleiben.

Zurück zum Thema:

Die Grundidee des Geschäftsmanns, seine wahre Identität soll aus Sicherheitsgründen zunächst unbekannt bleiben, fußt auf eigenen und leidvollen Erfahrungen aus Kindheit und späterer Elternschaft. Manch eine der Erinnerungen geht ihm bis heute noch an die Nieren und so entstand über Jahrzehnte das Modell des Austausches defekter (Kinder)Teile. 

A propos Fuß:

Keinem Kind sollte in Zukunft noch zum Vorwurf gemacht werden, es sei mit dem „falschen“ Fuß aufgestanden. In Bälde würde jedes Kind mit ausschließlich „richtigen“ Füßen ausgestattet sein. Ein Trend zum Dritt- oder gar Viertfuß bei vorausschauenden und ausreichend solventen Eltern wäre bestimmt nicht ausgeschlossen.

Der Geschäftsmann schließt die Augen und träumt von jungen Menschen, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen. Hach!

Öffnet er die Augen wieder und sieht zu seinem Leidwesen vielerorts Menschen (nicht nur Kinder!), die zwei linke Hände zu haben scheinen. Was sie auch anfassen, geht zu Bruch. Nichts scheint ihnen zu gelingen. Ein Jammer! Schnell zückt er sein Notizbuch und erweitert die Liste der zu fertigenden Einzelteile. Hände! Wir brauchen jede Menge Hände! 

Nichts gegen linke Hände, der Geschäftsmann ist selbst überzeugter Linkshänder, aber hier geht es um die Ausgewogenheit und die ästhetische Symmetrie. Also würde er die Produktion rechter Hände in allen Größen und Hautfarben ankurbeln müssen. Jeder erfolgreiche Geschäftsmann oder -frau brauchte schließlich eine verlässliche rechte Hand. Ach, was sag ich: jeder Mensch braucht so etwas.

Die rechte Hand des Geschäftsmannes mahnt jedoch zur Vorsicht: eine Überproduktion von Rechten sei tunlichst zu vermeiden. Gerade bei Heranwachsenden sei eine gewisse Gefahr zu verzeichnen, sie könnten durch zu starke Betonung der rechten Seite entsprechende Sachverhalte in den falschen Hals bekommen und im schlimmsten Fall auf einem Auge blind werden. Er solle doch im Sinne des Gleichgewichtes auch genügend linke Hände produzieren. Dies wäre nicht zuletzt der Hand – Auge – Kordination äußerst zuträglich.

Und wenn er schon dabei ist: klare, bis zum hinteren Ende des Denkhorizonts sehende Augen müssten auch produziert werden. Gerne in großer Stückzahl!

Schließlich würden gerade Jugendliche gerne einmal ein Auge auf jemand anderes werfen und da sei es schon von Vorteil, wenn man welche in Reserve hätte. 

Der Geschäftsmann nickt und notiert eifrig die Impulse seiner rechten Hand. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und will sein Portfolio im händischen Bereich erweitern. Als besonderes Schmankerl würde er grüne Daumen und magische Hände anbieten, ja, er kann sich sogar eine Kooperation mit Gärtnern, Ärzten oder Musikern vorstellen. Beim Anblick des leergefegten Stellenmarktes könnten so auch vollkommen talentfreie Bewerber mittels einer Transplantation der gewünschten Eigenschaften zu Lohn und Brot kommen. 

Er ist schon genial, unser Geschäftsmann.

Generationen zukünftiger Eltern bräuchten sich mit Hilfe der nun zu kaufenden Einzelteile nicht mehr mit der mühevollen erzieherischen Arbeit zu befassen. Väter und Mütter müßten sich nicht in endlosen Erklärungen ergießen, warum man nicht bei Rot über die Straße läuft oder warum man keine Nadeln in Steckdosen steckt. Es gäbe keine Diskussion darüber, warum ein Fahrradhelm mehr wichtig als uncool ist.

Brüllt sich ein Säugling die Lunge aus dem Leib, ist das von nun an kein Problem mehr. Dank des Geschäftsmannes gibt es nun Kindereinzelteile in allen Ausführungen.

Die Zukunft ist gerettet!

Dem aufmerksamen (und wer bis hierher gelesen hat: dem leidensfähigen) Leser drängt sich nun die Frage auf: wie kommt der Geschäftsmann an die Kinderteile, sind die bio oder irgendwie vorbelastet? Man hört ja immer wieder von Kindern, die in dunklen Kellern zum Zwecke der Fütterung der Eliten gehalten werden.

So ganz genau läßt sich der Geschäftsmann nicht in die Karten schauen. Schließlich möchte er potentiellen Nachahmern das anfertigen billiger Plagiate so schwer wie möglich machen. Er versichert jedoch, seine Kinderteile stammten alle ohne Ausnahme von glücklichen und im Freiland gehaltenen Kindern und bei Einzelanfertigungen würde er keine Kosten und Mühen scheuen und die neue Technik des 3D Druckes nutzen. 

Da können wir also alle ganz beruhigt sein.

Wir können uns ganz entspannt zurücklehnen, einen Mojito trinken und darauf hoffen, dass die Summe der einzelnen Teile auch ohne unser Zutun irgendwie ein Ganzes ergibt.

Text: A. Müller

Foto: Internetfund, Fotograf bislang unbekannt

Das kleine Ich

Das kleine Ich ist heute ziemlich wütend! Ringsherum sind so viele andere Ichs, die es anscheinend gar nicht interessiert, was das kleine Ich möchte. Es sind nämlich schon sehr große Ichs; viel größer als das kleine Ich. Laut sind sie, die Großen. Sie poltern und stampfen, sie schreien und kreischen. Da wird es dem kleinen Ich manchmal richtig Angst und Bange.

Ständig sagen die Großen dem kleinen Ich, was es tun und lassen soll.Sie sagen dem kleinen Ich sogar, was es schon kann und was es noch nicht kann. „Die haben doch gar keine Ahnung!“ schimpft das kleine Ich in sich hinein. „Nur weil die schon so groß sind, tun sie so wichtig. Außerdem treffen die Großen immer nur solche Entscheidungen, die für sie selbst richtig sind. Die kümmern sich überhaupt nicht um meine Bedürfnisse.“ Das kleine Ich sitzt schmollend in seiner Ecke. Tausendundeins Dinge fallen ihm ein, warum die großen Ichs so gemein sind. Manchmal kommt so ein großes Ich ins Zimmer und sagt, es wäre jetzt Schlafenszeit und dass das kleine Ich jetzt die Zähne putzen soll. Dabei ist das kleine Ich doch noch glockenwach oder muss dringend noch etwas zu Ende spielen. Wie kann es da ins Bett gehen? Also wirklich! Keine Ahnung haben die Großen! Keine Ahnung!

An einem anderen Tag kommt dann irgendein großes Ich daher und erklärt, man dürfe nichts unerledigt herum liegen lassen und man solle seine Dinge stets zu Ende bringen. „Meine Güte!“, das kleine Ich rollt genervt mit den Augen, „meine Güte! Hören die sich eigentlich selbst zu wenn sie reden?“ Schließlich legen die großen Ichs auch nicht immer alles ordentlich zur Seite oder werden an einem einzigen Tag mit ihren Aufgaben fertig. Das kleine Ich hat nämlich schon sehr oft zugehört, wenn die Großen sich gegenseitig von „Bügelbergen“ erzählten oder sich beklagten, dass „das Projekt“ noch bestimmt 5 Monate dauern würde. 

Da brauchen sich die großen Ichs also gar nicht wundern, wenn das kleine Ich am Ende genau das macht, was es will. 

Das kleine Ich hat es ohnehin schon längst satt, so selten für sich selbst entscheiden zu dürfen. „Ich bin Ich!“ denkt es trotzig, „ich brauche die anderen gar nicht. Ich kann das alleine!“

Es schnappt sich ein Stück Zauberkreide und malt einen Kreis um sich herum. Einen ziemlich großen Kreis, damit das Ich wenn es einmal größer ist, auch genügend Platz darin hat. In diesen Kreis dürfen die anderen Ichs nur hinein, wenn es das kleine Ich erlaubt. Im Inneren des Kreises kann das kleine Ich tun und lassen, was ihm gefällt und niemand! niemand! niemand! darf es ihm verbieten! Das kleine Ich kichert glücklich. Endlich hat es seine Ruhe vor den Großen. Die werden Augen machen!

Dann fällt ihm ein, wie es wohl wäre, wenn die anderen Ichs auch so einen großen Kreis um sich herum hätten. Gäbe es dann immer noch genügend Platz für jedes einzelne Ich? Gäbe es dann vielleicht auch weniger Streit?

Das kleine Ich kratzt sich versunken an der Nase. Auf jeden Fall könnten sich die einzelnen Ichs in ihrem Kreis ziemlich sicher fühlen. Niemand dringt doch ungefragt in einen so privaten Bereich ein. Oder nicht?

Die Ichs müssten auch sonst viel mehr miteinander sprechen und ganz höflich fragen, ob ein Ich vielleicht doch bitte seinen Kreis etwas kleiner machen könnte, wenn ein anderes Ich ausnahmsweise mal mehr Platz benötigt. Am Geburtstag zum Beispiel. Bestimmt würde das andere Ich sich dann an diesem Tag etwas einschränken, um dem kleinen Ich eine Freude zu machen.

Diese Regelung müsste allerdings für alle Ichs gleich gelten. Die großen Ichs dürften nicht mehr ungefragt die Kreise der kleinen Ichs stören und umgekehrt. Nur in Notfällen wäre das erlaubt. Zum Beispiel, wenn sich ein kleines Ich unwissentlich in Gefahr begibt oder ein großes Ich am Sonntagmorgen viel zu lange schläft. In diesem Fall dürfte ein kleines Ich mit einem riesengroßen Hopser ins Bett des großen Ichs springen und „Aufstehen! Es ist schon hell draußen!“ rufen dürfen.

Je länger das kleine Ich überlegt, desto mehr merkt es, wie flexibel so ein Kreis aus Kreide sein müsste. Wie gut, dass das kleine Ich Zauberkreide verwendet hat. Die macht den Kreis nämlich dehnbar. Mit normaler Kreide oder Filzstiften kann man solche Kreise zwar auch malen, aber nur mit Zauberkreide können die Kreise wirken.

Das kleine Ich hat nämlich bemerkt, dass bei den Großen dieser magische Kreis ganz oft zu einem klitzekleinen Pünktchen schrumpft. Bevor der Kreis so klitzeklein wird, gibt es meist ein lautes Palaver, manchmal auch Geschrei unter den großen Ichs. Dann sitzen sie da, mit roten Köpfen und heißen Ohren und jeder sagt seine Meinung. 

Je nachdem wie klug die großen Ichs sind, kommen sie am Ende zu einem gemeinsamen Beschluss, von dem ein jedes Ich profitieren kann. 

Aus vielen einzelnen Ichs wird dann ein einziges großes Wir. Jedes einzelne Ich gibt ein Stück von seinem magischen Kreis ab und aus diesen vielen kleinen Teilen wird ein großer Kreis gebaut. Ein bunter Flickenteppich aus Ansichten, Gefühlen und Meinungen. Die Zauberkreide hält alles so lange zusammen, bis ein neues Wir entstehen soll. 

„Vielleicht sind die großen Ichs doch klüger als ich zunächst dachte.“ Das kleine Ich kommt aus dem Nachdenken gar nicht mehr heraus. „Sie bauen gemeinsam aus vielen Ichs ein Wir. Im Wir sind auch die kleinen und schwächeren Ichs geschützt.“ Das kleine Ich beginnt so langsam zu verstehen.

Es ist offensichtlich sehr sinnvoll, ab und zu über den Rand des eigenen Ichs hinauszuschauen und sich mit den anderen Ichs zu verständigen. Mit Hilfe der Zauberkreide können die Kreise um die vielen Ichs mal größer und mal kleiner gezeichnet werden. Gerade so, wie es eben im Moment notwendig ist.

„Ganz schön praktisch“, findet das kleine Ich. „Von jedem Ich ist ein kleines Stück in diesen Teppich gewebt und aus vielen kleinen Teilen entsteht etwas komplett Neues.“

Jetzt ist das kleine Ich überhaupt nicht mehr wütend. Es hat den Unterschied zwischen dem Ich und dem Wir verstanden. Manchmal ist es wichtig, für sich selbst einzutreten und eine dicke Linie aus Zauberkreide um sich herum zu malen. Genauso wichtig ist es allerdings auch, zu erkennen, wann der eigene Kreis kleiner werden muss, damit man sein Ich für die Gemeinschaft einsetzen kann. 

Aber am wichtigsten ist es, das Stück Zauberkreide zu finden. Sie liegt in jedem einzelnen Ich verborgen.

Text: A. Müller

Speed Metal im Kopf

Kennt ihr das auch? Hämmernde, im Millisekundenbereich auftretende Gedanken, kaum da, schon wieder weg. Laut sind sie, bohren sich bis in die hinterletzte Gehirnwindung, bringen alles was an Hirnmasse zu Verfügung steht zum beben. Bäm-bäm-bäm! 

Ohne erkennbare Melodie, geschweige denn Harmonie den Kopf erfüllend; lästig und faszinierend zugleich. 

Lästig, weil sie den Kopfesbesitzer von allerlei wichtigeren oder gar sinnvolleren Dingen ablenken. Da will man eigentlich in Ruhe überlegen, was man sich heute auf’s Pausenbrot schmiert, um den Tag wenigstens mit vollem Magen zu überstehen, aber nein: der Denkmuskel zuckt mal wieder unkontrolliert in seiner knöchernen Schale. Na toll.

Das innere Auge wird in schneller Folge mit Bildern von wogenden Weizenfeldern, einträchtig nebeneinander stehenden Salz- und Pfefferstreuern, weinenden Kleinkindern, unaufgeräumten Küchenschubladen und sonstigem Zeug, dass in keiner Verbindung zueinander steht, malträtiert.

Es ist keine einzelne Gedankenwoge, die man luftanhaltend locker überstünde. Nein, es ist eine Flut, die alles überströmt. Bäm-bäm-bäm! Immer schneller, immer mehr. 

Einen einzelnen Gedanken zu erhaschen, festzuhalten und sich in Ruhe damit zu befassen, erscheint aussichtslos. „Pah! Wale fressen schließlich auch keinen einzelnen Krebs. Die geben sich auch nur mit der vollen Ladung Krill im Maul zufrieden.“ brüllt es durch den Schädel des geplagten Kopfbesitzers. Sägend setzen die obligaten Speed Metal Gitarren ein und der Kopfbesitzer fragt sich in einer freien Sekunde, ob Wale vielleicht nur deshalb so viel Krill fressen, weil in den Weiten der Ozeane kein Butterbrot zu finden ist. Das würde nämlich viel schneller satt machen und der Wal hätte mehr Zeit für andere Dinge. Ruhige Klaviermusik hören, vielleicht. Zur Entspannung.

Ob Wale wohl auch solche Speed Gedanken haben? Eichhörnchen haben die bestimmt. Das sieht man ja schon, wenn sie in den Bäumen herum turnen. Rauf, runter. Links um den Stamm, rechts um den Stamm. Dazwischen keckern sie ein irres Keckern. Tiefschwarze Pupillen, schnelle Blicke auf die Welt. Voll auf Speed. Eichhörnchen hören bestimmt keine ruhige Klaviermusik. Eichhörnchen sind die Metaller der Bäume! Eichhörnchen könnten im Gegensatz zu den Walen sogar Gitarre spielen. Müssten halt nur klein genug sein. Die Gitarren.

Man stelle sich das mal vor: in den Fußgängerzonen der Städte stünden statt Panflöte spielender Musiker in bunte Umhänge gehüllte Eichhörnchen, die „El Condor pasa“ auf ihren winzigen E-Gitarren runter reißen. Und wenn die Aufsichtsbehörden anrücken sind sie hastenichtgesehen in Nullkommanix auf den Bäumen verschwunden.  Die Eichhörnchen. 

Und das alles nur, weil irgendsoein Kopfbesitzer gerade nicht mit dem Denken aufhören kann.

Der kommt dann immer wieder vom Hölzchen aufs Stöckchen und weiß nicht mehr, was er vor 5 Sekunden gedacht hat. Bäm-bäm-bäm! 

Ob man in so einer Gedankenflut surfen könnte? Ein Versuch ist es wert. Sich so lange es möglich ist, innerhalb der Wasserröhre waagerecht zur Oberfläche zu bewegen, bevor die Welle bricht und alles mitreißt. Und das alles zur theatralisch-musikalischen Untermalung von „Also sprach Zarathustra“ Inklusive Bäm-bäm-bäm. Bestimmt war Johann Strauß auch Speed Metaler. Surfen konnte er jedenfalls nicht.

Ob Gedanken eigentlich auch mal müde werden? Dann müsste man als Kopfbesitzer einfach abwarten, bis das Hämmern im Hirn nachlässt. Stoische Ruhe, statt hektischem Denken. Kontrolliertes Ignorieren. 

So eine Gedankenflut ist ja auch irgendwie vergleichbar mit französischen Autorenfilmen. Anstrengend, schwer zu verstehen, aber immerhin noch gerade so interessant, dass man nicht abschaltet. Schon allein wegen Romy Schneider. Man möchte schon wissen, wie’s ausgeht. Man möchte hinter die Grundidee schauen. Oder einfach Alain Delon noch ein Weilchen betrachten. 

Also guckt man sich den ganzen Film an, knabbert derweil Erdnüsschen aus der Dose und hofft, dass das Unterbewusstsein sich irgendwann mal helfend einschaltet. 

Oder ausschaltet. Kommt ganz drauf an. 

Man muss ja auch nicht jeden Scheiß anschauen. Bildungsfernsehen hin oder her.

Überhaupt: das Unterbewusstsein ist an allem schuld! Echt an allem. Ohne diese vermaledeite Zwischenablage im Hirn käme selbiges ja erst gar nicht auf die Idee, den Kopfbesitzer so zu malträtieren. Woher ich das weiß? Hat dem Kopfbesitzer das Unterbewusstsein mit zum Gruß erhobenen Glas zwischen zwei kreischenden Riffs zugeschrieen. Richtig verstehen konnte er es nicht. War so laut drumherum. Aber den Sinn der Worte konnte er von den Lippen ablesen. 

Also erhebt er seinerseits sein Glas, prostet dem Unterbewusstsein zu und ruft in den tosenden Lärm seiner Gedanken hinein: „F*ck dich!“ 

Das Unterbewusstsein zieht schmollend ab (es kann auch Lippenlesen) und sieht ein, dass es an diesem Tag beim Kopfbesitzer keinen Stich mehr macht. 

Ruhe kehrt ein. Wohltuende Ruhe. Nicht mal Vogelzwitschern ist zu hören. Im Hirn ist es still.

Auch irgendwie langweilig. 

Text: A. Müller

Kai nimmt Abschied – Hörgeschichte

Mit Kindern über den Tod sprechen ist etwas, dass uns allen sehr schwer fällt. Vielleicht gibt diese Hörgeschichte den einen oder anderen Impuls, die Scheu vor diesem Thema abzulegen und einfühlsame Worte zu finden.

Mein Dank geht an Anja Klukas, die diese Geschichte vertont hat. Wenn ihr mehr über ihr Schaffen erfahren möchtet, besucht doch einmal ihre Website. http://anja-klukas.de

Die Angst

Vor ein paar Wochen beschäftigten wir uns noch überwiegend mit Inzidenzen, Krankenhausbelegungen und Impfungen. Die Corona-Pandemie hatte uns seit nunmehr zwei Jahren fest in der Hand und fast jeder kennt oder kannte jemand, der infiziert, erkrankt oder sogar verstorben war. Die Angst, sich selbst anzustecken und das Virus an jemand weiterzugeben, der dann nicht glimpflich davon kommt, war allgegenwärtig. Trotz aller Schutzmaßnahmen blieb diese Angst hartnäckig im Hinterkopf verankert. 

Zwei Jahre lang Angst. 

Sie hat uns verändert, dünnhäutig gemacht.

Wer hätte gedacht, dass das Gefühl der Angst noch gesteigert werden kann?

In den letzten zwei Jahren hatte jeder Einzelne genug Möglichkeiten, sich selbst und andere zu schützen. Wir konnten aktiv etwas tun. Hände waschen, lüften, Kontakte reduzieren, impfen; all das gab uns trotz der Besorgnis das Gefühl, dem Virus (und der Politik) nicht in voller Gänze ausgeliefert zu sein.

Nun aber, ganz aktuell, sind unsere Möglichkeiten, sich der Angst zu stellen, eingeschränkt. Fassungslos und voller Sorge schauen wir gen Osten nach der Ukraine. Das Land und seine Bevölkerung ist zum Spielball der großen Politik geworden. Über die Gründe, warum dies so ist, vermag ich nicht zu schreiben. Dazu fehlt mir jedwedes Wissen und Überblick.

Aber ich kann darüber schreiben, was dieser politische Konflikt in mir auslöst.

Zunächst einmal frage ich mich, wie es eigentlich soweit kommen konnte? In den vielen vergangenen Jahren war ich hauptsächlich mit meinem eigenen Leben und den sich täglich stellenden Aufgaben beschäftigt. Natürlich war es mir nicht egal was da draussen in der Welt passiert, aber meine Kräfte waren eben so gebündelt, dass ich nicht alles mitbekommen, geschweige verstanden habe. Außerdem war ich wohl naiv genug, der Politik so weit zu vertrauen, dass schon nichts schief gehen würde….

Ich habe mich in meinem Vertrauen wohl getäuscht. Das macht mich unglaublich wütend. Auf mich selbst und auf die verantwortlichen Politiker. Wäre es nicht ihr Job gewesen, für ein friedliches Miteinander zu sorgen? 

In meiner kleinen Welt bin ich tagein tagaus mit ähnlichen Aufgaben betraut: ich versuche, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, versuche, mich nicht provozieren zu lassen und gebe, wann immer es möglich ist, eine diplomatische Antwort auf unverschämte Fragen.

Ich krieg’ das auch meistens hin. Nur manchmal gelingt es mir nicht.

Aber ich habe noch nie jemanden gehauen, verletzt oder gar getötet. Diese Grenze darf einfach nicht übertreten werden!

Wenn ich das in meiner kleinen Welt schaffe, ohne diplomatische oder politische Ausbildung obendrein, dann dürfte es von der Weltpolitik doch nicht zu viel verlangt sein, es ebenso tagein tagaus zu versuchen.

Wie gesagt, mir fehlt der Überblick und das Wissen; vielleicht haben es die Staaten ja versucht. Aber wer weiß schon so genau, ob sie es im Sinne der Menschen wirklich und wahrhaftig versucht haben. Die Anstrengungen, diesen Krieg zu vermeiden, sind tatsächlich nicht erfolgreich gewesen.

Dieser Krieg macht mir große Angst. Dieser Krieg ist anders als der Kampf gegen ein Virus. Hier kann ich nichts aktiv tun. Ich bin gezwungen abzuwarten, wie klug oder wie dumm sich die Weltpolitik anstellt.

Noch sind „nur“ die Menschen in der Ukraine von Bomben und Raketen betroffen. Noch sterben „nur“ Soldaten.

Die Angst, der bewaffnete Konflikt könnte sich schnell bis ins westliche Europa ausbreiten, ist groß. Die Angst, Aggressoren und Verteidiger könnten nukleare Waffen benutzen, ist ebenso groß. Diese Angst ist real, greifbar und lähmend. 

Wer gedacht hat Corona sei ein schrecklicher Einschnitt in unser aller Leben, wird eines Besseren belehrt. Ich habe die Befürchtung, wenn in den nächsten Tagen nicht mit verdammt viel Fingerspitzengefühl und Vorsicht gesprochen und gehandelt wird, wird uns Sehen und Hören vergehen.

Das Tragen einer Maske wird dann unser kleinstes Problem, und die bis dato unverzichtbare Urlaubsreise wird Makulatur sein. Und davon, was so ein Krieg mit den Kindern macht, wollen wir lieber nicht reden…

Was diese Tage prägt, ist die Angst und die Frage: wer sind die Guten, wer sind die Bösen? Sind sie denn überhaupt eindeutig zu benennen?

In diesem, wie in allen anderen Kriegen auf dieser Welt, sterben Menschen. Menschen, die sich, wie ich, viel lieber um ihre eigene kleine Welt kümmern wollen. Menschen, die genau wie ich, große Angst vor Kriegen haben. 

Wir alle wollen in Frieden leben. 

Damit dies gelingen kann, könnten wir vielleicht für’s Erste aufhören, irgendwelchen Schreihälsen und Phrasendreschern den Mund zu reden. Wir könnten dankbarer sein, für das, was wir haben. Wir könnten aufhören, nach immer mehr von Allem zu gieren. Und wir könnten beginnen, zu teilen.

Den Frieden zu bewahren wird uns viel Kraft kosten. Aber es wird viele tausend kostbare Leben und die Zukunft unserer Kinder retten.

Der Gegenspieler der Angst ist der Mut zum Frieden. Das zeigen die vielen Menschen, die sich in Russland gegen den Krieg positionieren. Nehmen wir uns an ihnen ein Beispiel und wünschen wir ihnen und uns einen friedlichen Ausgang.

Text: A. Müller

Das ist das Leben

Es gibt Zeiten, da bedarf es innerer Stärke und Mut, sich seiner Gedanken und seiner Vergangenheit zu stellen. Obendrein bedarf es auch einer gewissen Schnelligkeit, denn manche Gedanken sausen rasend schnell durch den Kopf und lassen sich kaum fassen. Sie sind fast nicht greifbar und bleiben als Gefühl, als vages Spüren im Hintergrund. Aber gerade dort, im Hintergrund, arbeiten sie unablässig weiter. Sie lassen uns nicht los und zwingen uns immer wieder, uns mit ihnen zu beschäftigen. 

Es gibt Zeiten, da erkennt man die Vielschichtigkeit der Wahrheit. Es gibt nicht nur die Eine, die Unumstößliche. Im Gegenteil, jeder erlebt seine ganz eigene, private Wahrheit. Jeder wird durch sie geprägt, packt dieses Erfahrungen in seinen Lebensrucksack und handelt, meist unterbewußt, danach. 

Es gibt Zeiten, da erleidet man Verletzungen.

Es gibt Zeiten, da schlägt man Wunden.

Das ist das Leben.

Wenn ein Leben endet, kommen die Zeiten der Erinnerung, der Reflektion, der Suche nach der anderen Wahrheit, des Festhaltens flüchtiger Gedanken.

Oftmals muss man seinen ganzen Mut zusammenkratzen, um all dem standzuhalten. Die Furcht vor Vergangenem kann bisweilen ziemlich groß sein. Erinnerungsfetzen kommen an die Oberfläche, längst Vergessenes will plötzlich wieder angeschaut werden. Erinnerungen, in die man sich wie in einen wärmenden Mantel hüllen kann und Erinnerungen, die das Grauen aus fernen Tagen wieder zum Vorschein bringen.

Das Herz droht manchmal aus dem Brustkorb zu springen, so intensiv erlebt man jene Gefühle von damals wieder. Schon längst erwachsen, ist man wieder Kind. Versorgt, gefüttert, sauber gebadet. Ermutigt, gelobt, aber auch gescholten und bestraft. Gerüche aus Kindertagen kommen an die Oberfläche. Oft gesagte Sätze dringen wieder ins Ohr. Stimmungen und unverständliche Wahrnehmungen drängen aus dem Dunkel ins Licht.

Doch anders als in Kindertagen, hat man jetzt die Chance, all jene Erinnerungen zu reflektieren. Man ist nicht mehr einer Situation ausgeliefert, die man nicht versteht, sondern kann sich jetzt die notwendige Zeit und die Ruhe nehmen, alles von jeder Seite zu betrachten.

Das was lange im Hintergrund arbeitete, kann nun abgeschlossen werden. Das Gute darf mit ganzen Herzen betrauert werden. Das was nicht gut gelang darf verziehen werden.

In der Geste des Verzeihens liegt kein Großmut oder Eigennutz, sondern die Bereitschaft zum Frieden über die verschiedenen Sphären hinweg. 

Die Vergangenheit darf nun ruhen. 

Sie war prägend, aufregend, bisweilen stürmisch. Langweilig war sie jedoch nie.

Es gibt Zeiten, da bedarf es einiger Anstrengung, sich mit dem Inneren und dem Äußeren auseinanderzusetzen. 

Es gibt Zeiten, in denen diese Auseinandersetzung zur Kraftquelle wird.

Es gibt Zeiten, die bei näherer Betrachtung Chance sein können.

Auch das ist das Leben.

Text: A. Müller

Der kleine Riese – Hörgeschichte

Ihr ärgert euch manchmal auch, dass ihr noch nicht so groß wie andere Leute seid? Dem kleinen Riesen ging es auch so. Klein sein ist nämlich manchmal echt doof. Deshalb hat sich der kleine Riese etwas ziemlich cooles überlegt.

Wer wissen will, was genau das war, der kann sich die Geschichte hier in voller Länge anhören:

Frühlingshunger

Ende Januar, spätestens Anfang Februar ist es soweit: man hat die Nase voll, vom Braungrau des schneelosen Winters. Ihr wisst schon, diese erdigen Töne ohne Glanz. Diese farblose Umgebung, die mehr vom Tod erzählt, als von der Hoffnung auf Neuanfang. Nirgendwo ist ein Zeichen des Aufbruchs zu entdecken, die Welt scheint in Abgestorbenem zu erstarren. Kahles Geäst, wie Scherenschnitte wirkend. Ob jemals wieder Leben in diese Zweige zurückkehrt?

Welk hängen ein paar übrig gebliebene Blätter an manchen Sträuchern. Auch sie haben kapituliert. Den Lebenssaft nicht schnell genug eingezogen, explodierten ihre Zellwände in den Frostnächten und hinterließen graubraune Blattleichen als mahnendes Manifest des Winters. Für ein paar lichtlose Monate sollen wir Ruhe geben, Pause machen, Kraft schöpfen.

Sobald jedoch die Tage nur ein klein wenig länger werden und die Sonne an geschützten Stellen wieder wärmt, kommt die Unruhe, der Hunger mit aller Macht. Wann ist es endlich soweit?

Der Hunger nach Aufbruch, der Durst nach Farbe ist so groß wie zu keinem anderen Zeitpunkt im Jahr. Jede Knospe wird Anlass zum Jubel, jeder kleine grüne Hauch ist Zeichen des Sieges. Es ist doch nicht alles verloren. Hoffnung keimt zartgrün auf.

Lange Monate tief im Boden verborgen, drängen sich nun Schneeglöckchen vorsichtig an die Oberfläche. Sie sind die mutigsten unter den Hoffnungsbringern. Nicht besonders farbenfroh, aber immerhin ein Lebenszeichen zwischen braunen Grasbüscheln. Ein Wunder in Grün-Weiß.

Bald schon trauen sich auch andere Frühlingsboten aus ihrem Winterversteck. Gelb blüht der Winterling und sieht dabei aus, als könnte man aus Sonnenstrahlen Konfetti machen. Krokus und Primel lugen vorsichtig zwischen den langsam grüner werdendem Gras hervor und haben Violett und Rot mit im Gepäck. Wie gut diese Farben tun! Farbtupfer im Einheitsgrau. In dieser Jahreszeit besonders gut zu sehen.

Die Zaubernuss weiß auch was zu tun ist und bietet den mutigsten unter den aufgewachten Insekten mit ihren Blüten Nahrung an. Der Einfachheit halber bildet sie ihre gelben und orangen Blüten direkt an den Zweigen. Die Blattknospen öffnen sich erst viel später. Um diese Jahreszeit wird keine Energie verschwendet.

Je länger die Tage werden, je wärmer die Sonne wird, desto mehr Leben kehrt zurück. Silbrig glänzende Weidenkätzchen werden von einem Tag auf den anderen zu pudrig gelben Wattebäuschen und übergeben ihre Pollen dem Wind. Auch die Haselnuss läßt sich nicht zweimal bitten. In kleinen gelben Wolken verteilt jedes noch so laue Lüftchen ihren Blütenstaub.

Das Leben kommt im Zeitraffer zurück. Überall sprießt es, überall blüht es. Bunt, hell; mal in zarte, mal in grelle Farben getaucht. 

Es scheint so, als wäre der Wintertod besiegt. 

Allerdings ist der Sieg noch nicht endgültig. Noch ist der Winter nicht vorbei. So leicht gibt er nicht auf. Bis weit in den April hinein kann er sich noch einmal aufbäumen, mit aller Macht zurück kommen. In nur einer Nacht kann er all das neuerwachte Leben zerstören. 

Der Frühling braucht einen langen Atem und wir, die Hungrigen, brauchen viel Geduld.

Wir dürfen uns nicht täuschen lassen, nicht glauben, der Winter zöge sich kampflos zurück. Noch müssen wir ein wenig ausharren, die braungrauen Farbtöne ertragen. 

Ende Januar, spätestens Anfang Februar, wenn der Frühlingshunger am stärksten ist, sind auch die Zeichen der Hoffnung deutlich erkennbar. 

Kleine Farbtupfer im Alltag, noch unscheinbar und versteckt.

Wärmende Strahlen, die die winterliche Kälte für kurze Zeit vertreiben.

Mehr Licht und weniger Schatten.

Die Hoffnung ist da. Wir müssen nur lernen, sie wieder zu sehen.

Text: A. Müller

Von Katzenbildern und Dämonen

Ich führe ein wirklich armseliges Leben. Es fehlt mir an so vielen Dingen. Dinge, die mich glücklich machen. Dinge, die mir das Leben erleichtern. Dinge, die einfach unverzichtbar sind. Ich hatte ja keine Ahnung, was mir alles fehlt.

Zum Glück gibt es Abhilfe. Damit mein armseliges Leben nicht weiterhin so trostlos und leer bleibt, bekomme ich beim täglichen Lesen diverser Internetplattformen Hilfestellung für alle Lebensbereiche. Gutmeinende Menschen bieten mir ihre Unterstützung an. Einfach so! Wie nett! Gerade in Zeiten wie diesen, in denen die soziale Kälte immer tiefer in die Knochen kriecht, ist es wohltuend, wenn sich jemand um einen kümmert. Da gibt es zum Beispiel die nette Frau aus einem Kaff in der Nähe einer Großstadt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Kampf mit meinen inneren Dämonen aufzunehmen. Sie schreibt, ihre mentale Stärke könne mir helfen, die Dämonen zu befrieden. Das ist wirklich unglaublich nett von ihr. Ich habe nämlich im Alltag ziemlich wenig Zeit für meine inneren Dämonen. Die kommen seit Jahren viel zu kurz. Ja, die Frau hat schon recht: wer sich seiner Dämonen nicht bewußt ist, der merkt gar nicht, dass sie da sind. Und das wäre echt schlecht. Für die Frau.

Also gebe ich einen Auftrag zur Bekämpfung sämtlicher Dämonen. Soll sich die Frau doch damit herumschlagen, wenn sie es so gerne macht. Jeder hat ja so seine Stärken. Ich binde zum Beispiel gerne Blumensträuße, ein anderer repariert Motoren und die Frau kämpft gern mit Geisteswesen. 

Für einen einmaligen Unkostenbeitrag von drölf Euro schickt sie mir ein paar Katzenfotos. Ich solle mein „Herztier“ benennen und mich auf geistiger Ebene hinein fühlen. Mein Herztier würde mir dann eine Botschaft übermitteln. Genauer gesagt, übermittelt das Herztier zuerst der Frau meine Gefühle und sie teilt mir diese dann gegen einen einmaligen Unkostenbeitrag von drölf Euro mit. Ich finde es wirklich unglaublich fürsorglich, wie viel Arbeit sich die Frau mit mir macht. Ich meine, es ist ja auch nicht so einfach, mir meine Gefühle mitzuteilen. Das soll ihr erst mal jemand nachmachen. Ich jedenfalls blicke schon lange nicht mehr bei meinen Gefühlen durch. Da sind bestimmt auch unerkannte Dämonische mit dabei und ohne die nette Frau würde ich das gar nicht merken. 

Wie befürchtet, kommt es dann genau so: es wohnen unzählige Dämonen in mir, teilt mir die Frau mit. Da sind sogar welche dabei, die mich zerstören wollen! Mir fährt der Schreck in die Glieder. Dann fällt mir ein, dass das ja im Grunde auch die Aufgabe von Dämonen sein sollte. Sonst wären sie ja keine und hätten ihren Beruf verfehlt. Allerdings möchte ich mich nicht einfach so völlig wehrlos zerstören lassen (und dabei die Dämonen obdachlos zurück lassen) und frage daher bei der Frau an, was zu tun sei. Gegen einen einmaligen Unkostenbeitrag von drölf Euro bekomme ich Antwort: so einfach würden sich die mir inne wohnenden Dämonen nicht vertreiben lassen. Ich hätte sie schließlich seit Jahrzehnten unbewacht heran wachsen lassen, sie hätten nun ein Eigenleben, auf das sie nur unter Protest verzichten würden. Der Kampf mit ihnen, ja die gesamte Austreibung würde schmerzhaft, blutig und langwierig sein. Der Gedanke, wie sich meine Dämonen bei der Austreibung verzweifelt an meinen Innereien festklammern, ist mir ehrlich gesagt etwas unangenehm. Ob mein temporäres Magendrücken und die bisweilen ätzenden Kopfschmerzen wohl als Dämonenprotest zu werten seien, will ich von der Frau wissen. Ja, wenn ich genauer darüber nachdenke, dann erklären sich auch meine Schmerzen im Knie nun von selbst. Ursächlich sind nicht Belastung, Alter oder eine Verletzung; nein, die Dämonen hocken da drin und tanzen Polka. Klar, dass das weh tut.

Ich beschließe, den Dämonen mit sofortiger Wirkung zu kündigen, aber die Frau erklärt mir, dies sei nicht so einfach. Ohne ihre Hilfe würde das schiefgehen. Nur sie kenne sich aus im Wirrwarr des Dämonenkündigungsverfahrens. Gegen einen weiteren einmaligen Unkostenbeitrag von nur drölf Euro schickt sie mir nochmals Katzenbilder. Ich solle fühlen, lautet ihr Auftrag. Ich fühle was das Zeug hält und merke nach gefühlten Stunden des Fühlens: nix.

So leiste ich noch einen einmaligen Unkostenbeitrag von drölf Euro und erfahre, dass ich falsch fühle. Also nicht richtig falsch, aber eben auch nicht richtig richtig. Ich hätte nicht nur ein Dämonenproblem, sondern auch die falsche Einstellung zu der Frau als Mittlerin zwischen den Dämonen und mir. Ich würde ihr nicht vorbehaltlos vertrauen. Das müsse ich jedoch unbedingt. Sonst würde das nichts mit der Dämonenaustreibung. Gegen einen einmaligen Unkostenbeitrag von drölfzig Euro könnte sie mich in Sachen Vertrauen unterweisen. Ich muss schon sagen, die Frau hat’s echt drauf. Die weiß Dinge über mich, die ich in hundert kalten Wintern nicht geahnt hatte. Sie erklärt mir, das Unvermögen Vertrauen zu bilden, sei ein dämonisches Nebenprodukt. Gegen einen einmaligen Unkostenbeitrag….. 

So langsam geht mir das Geld für die Dämonenaustreibung und die Wiederherstellung meines Vertrauens aus. Zur Ehrlichkeit erzogen, teile ich der netten Frau diesen doch sehr privaten finanziellen Umstand mit. Ach, das sei doch kein Problem, antwortet sie mir schnell. Ich könne mir sicher in der Familie etwas borgen. Die Familie würde mich doch in dieser Phase sicher nicht hängen lassen. Andernfalls drohe mir mächtiges Ungemach mit meinen mittlerweile aufgeschreckten Dämonen. Es seien nur noch ungefähr 25 Sitzungen mit ihrer Hilfestellung nötig, um endlich Heilung zu erfahren. Dies könne ich doch unmöglich aus Geldgründen sausen lassen. Geld sei doch ohnehin ein Sinnbild für dämonische Gier und man solle stets darauf achten, nicht zu viel davon zu besitzen.

Bei ihr wäre der schnöde Mammon gut verwahrt und könne keinen weiteren Schaden anrichten.

Plötzlich fühle ich etwas! Ohne stundenlangen Starrens auf Katzenbilder, habe ich eine Erleuchtung. 

Plötzlich sehe ich alles glasklar vor mir und verstehe.

Gegen einen einmaligen Unkostenbeitrag von drölf Euro erzähle ich euch mehr.

Text: A. Müller

Die Geschichte vom Regenwurm, der lieber ein Elefant sein wollte

„Autsch! Pass doch auf, wo du hintrittst!“ rief Ronny, der Regenwurm. Mit einer Drehung nach rechts konnte er sich gerade noch in Sicherheit bringen. Um ein Haar wäre er von Rosalindes Vorderhuf zertrampelt worden. Rosalinde, das Reh hatte ihn einfach nicht gesehen. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit auf die saftigen Blätter eines Strauches gerichtet und nicht darauf geachtet, wo sie hintritt. „Tscholligom“ nuschelte sie mit vollem Mund, „wollte dir nicht weh tun, war keine Absicht.“

Ronny war es langsam leid. Ständig musste er sich vor den großen Tieren in Acht nehmen, ständig war er in Gefahr getreten zu werden. Nur, weil er so klein war. Alle anderen Tiere waren viel besser zu sehen, manche waren sogar so groß, dass man sie aus weiter Entfernung erkennen konnte. Rosalinde Reh zum Beispiel, oder Bärbel Bär. Die beiden waren so herrlich groß. Selbst in der Dämmerung konnte man sie wegen ihrer Körpergröße gut sehen. Sogar Hans Hase war für geübte Augen auch im hohen Gras gut sichtbar., weil er so lange Ohren hatte. Nur Ronny nicht. Ihn konnte man meist nur dann erkennen, wenn man ganz genau den Boden betrachtete. Ronny Regenwurm hatte es satt, immer der Kleinste zu sein. 

„Aber wie stelle ich es an, damit mich die anderen Tiere nicht mehr übersehen?“ überlegte er. Am liebsten hätte er sich dabei am Kopf gekratzt, aber nicht einmal das konnte er. Er hatte ja keine Arme oder Beine, mit denen er sich hätte kratzen konnte. Je länger Ronny über sich selbst nachdachte, desto trauriger wurde er. Was war er nur für ein Loser! Klein, am Boden kriechend, ohne Arme und ohne Beine, ohne schöne langen Ohren. Nicht einmal hören konnte man ihn! War ja klar, dass ihn keiner beachtete. Wer wollte schon mit so einem Niemand etwas zu tun haben? 

„Ich wünschte, ich wäre so groß wie ein…..“, überlegte Ronny. Es müsste schon ein eindrucksvolles Tier sein. Ein Starkes obendrein. Ach ja, und es müsste auch weithin zu hören sein. Es müsste ein Tier sein, dass für seine Empfindsamkeit und seine Klugheit bekannt ist. Es müsste ein Tier sein, dass jeder respektiert. Ronny überlegte und überlegte und grub sich dabei immer tiefer mit seinem Kopf in den Boden. Ein Eisbär vielleicht? Ein Löwe? Oder gar eine Giraffe? Nein, keines dieser Tiere wollte so richtig zu Ronny passen. Ronny schüttelte den Kopf. Dabei stieß er an etwas Langes. Es war biegsam und dennoch fest. Zuerst wollte Ronny sich um dieses Dings im Boden herum graben, doch dann blieb er mit seinem Kopf unglücklicherweise daran hängen. Er hatte einen kleinen Moment zu lange daran geschnüffelt und jetzt saß das Dings fest. Ronny konnte sich schütteln, hin und her drehen wie er wollte. Das Dings ging nicht mehr ab.

Mühsam kämpfte sich Ronny aus dem Boden heraus zum Tageslicht. Vielleicht fand er irgendwo eine Steinchen, um das Dings wieder abzustreifen. Obwohl…. ja, warum war er nicht gleich darauf gekommen? Das Dings war gar kein Dings! Das Dings war genau das, wonach er gesucht hatte. Das Dings war ein Elefantenrüssel und er, Ronny, war ab jetzt ein Elefant. Groß, mächtig, stark und eindrucksvoll. So, wie er es sich immer schon gewünscht hatte. Nun würde ihn niemand mehr übersehen!

Probeweise pustete er seine Atemluft in den Rüssel und traute seinen Ohren kaum: das war doch tatsächlich ein „Trööötöööt“ zu hören. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Ronny war tatsächlich ein Elefant.

Natürlich blieb das den anderen Tieren im Wald nicht verborgen. Wenn plötzlich ein Elefant erscheint, merkt man das. Ist doch klar, oder? Vorsichtig näherten sie sich. Sogar die Bienenkönigin verließ ihren Stock und bestaunte das Rüsseltier. Hans Hase hopste ganz aufgeregt um Ronny herum, Bärbel Bär brummte wohlwollend und Rosalinde Reh verneigte sich anmutig. So viel Aufmerksamkeit war Ronny gar nicht gewohnt. Noch nie hatten ihm die Tiere so viel Beachtung geschenkt. Es war viel besser, ein Elefant zu sein. 

So vergingen die Wochen. Ronny war ein Elefant und ließ ab und zu ein „Trööötöööt“ aus seinem Rüssel ertönen, damit die anderen Tiere ihn nicht doch aus Versehen übersahen. Denn trotz des Rüssels war Ronny ja klein geblieben. Er war sozusagen der kleinste Elefant auf der Welt. Außerdem störte ihn der Rüssel zunehmend beim graben im Boden. „Hm“, machte Ronny nachdenklich, „hm, so habe ich mir das aber nicht vorgestellt.“ Elefant zu sein war doch nicht so einfach, wie es sich Ronny ausgemalt hatte. 

Was war er denn nun wirklich? Regenwurm oder Elefant? Ronny fragte sich, woran es denn liegen könnte, dass er manchmal lieber Elefant statt Regenwurm sein wollte. An anderen Tagen vermisste er jedoch sein altes Leben als Regenwurm. Er schlängelte sich gedankenverloren durchs Gras und hoffte, eines der anderen Tiere zu treffen. Vielleicht würde sich seine Frage im gemeinsamen Gespräch klären lassen. 

Er musste gar nicht weit schlängeln, bis er Bärbel Bär, Hans Hase und Rosalinde Reh traf. Sie saßen gemeinsam auf der Lichtung im Wald. Ronny musste allerdings zwei- dreimal hinschauen, sich die Augen reiben und noch einmal hinschauen, bis er seine Freunde erkannte. Sie sahen allesamt so anders aus. 

„Hey Ronny, altes Rüsseltier!“ rief Hans Hase und winkte Ronny einladend zu. „Du kommst gerade wie gerufen.“ Ronny schlängelte sich näher an die Gruppe. „Wie seht ihr denn alle aus?“, fragte er. Bärbel hatte sich einen hübschen Reif in den Kopfpelz gesteckt, daran baumelten zwei lange Fühler. „Ich wäre so gerne mal ein Käfer oder eine Ameise“, erklärte sie dem erstaunten Ronny. „Ja, und ich wollte schon immer mal ein lustiger Zirkusclown sein!“ rief Hans Hase. Jetzt erst bemerkte Ronny die rote Clownsnase in Hans’ Gesicht. „Ich wäre gerne mal ein farbenprächtiger Schmetterling“ säuselte Rosalinde und zeigte stolz ihre bunten Flügel. Ronny war ganz aus dem Häuschen. Er hatte ja keine Ahnung, dass die anderen Tiere auch manchmal gerne ihr Dasein tauschen wollten. Er hatte geglaubt, es ginge nur ihm alleine so. Trotzdem musste er zur Sicherheit noch einmal genauer nachfragen: „Ihr würdet manchmal auch lieber jemand anderes sein? Ich dachte immer, das geht nur mir so.“ Die anderen Tiere nicken. „Klar wollen wir auch ab und zu tauschen.“, antwortete Bärbel. „Schau, im Sommer, wenn es mir unter meinem Pelz zu heiß ist und ich keine Abkühlung finde, wäre ich total gerne ein kleiner Käfer oder eine Ameise. Da könnte ich mich an eine kühle Stelle verkriechen und müßte auch nicht ständig auf der Suche nach Wasser sein.“ 

„Genau“, fügte Rosalinde hinzu, „ich habe an manchen Tagen meine braunes Fell so satt. Dann möchte ich ein bunter Schmetterling sein und in allen Regenbogenfarben leuchten.“ Ronny begann zu verstehen. „Aber meistens bin ich zufrieden mit meiner Fellfarbe“, erklärte Rosalinde, „denn sie ist die perfekte Tarnung für mich. Wenn ich nicht gesehen werden will, kann ich mich prima verstecken. Mit leuchtenden Farben geht das nicht.“

„Jetzt bin ich aber echt erleichtert!“ Ronny hatte nun begriffen. Es war also ganz normal, ab und zu mal jemand anderes sein zu wollen. Es war sogar ganz hilfreich, weil man dann viel besser merkte, was gut am eigenen Ich ist. Ronny hatte nämlich ziemlich schnell bemerkt, dass er als Elefant viel schlechter in seiner Regenwurmhöhle wohnen konnte. Außerdem behinderte ihn der lange Rüssel beim graben und fressen. 

Aber es war trotzdem okay, ab und zu ein Elefant sein zu wollen. 

Manchmal musste man sich einfach ein wenig größer, wichtiger, bunter oder lustiger machen, als man eigentlich ist. Dann konnte man später wieder viel zufriedener Regenwurm, Hase, Bär oder Reh sein.

Text: A. Müller 

Illustration A. Klukas http://anja-klukas.de

Sag mal, schreibst du eigentlich noch?

„Sag’ mal, schreibst du eigentlich noch?“ fragt sie mich. Der Klang ihrer Stimme läßt mich reflexartig schuldbewußt zu Boden blicken. „Dein letzter Blogeintrag ist vom 19. Dezember!“ schiebt sie noch nach. Wieder dieses Vorwurfsvolle, Fordernde. Ich fühle mich schuldig und weiß gleichzeitig intuitiv, wie wenig angebracht dieses Gefühl ist. Was will sie denn von mir? Kostenlose Unterhaltung? Betreutes Denken? 

Während ich überlege, welche Antwort wohl richtig sein könnte, streiten sich Engel und Teufel auf meinen Schultern. Die beiden begleiten mich schon viele Jahre und oftmals kann ich die Fetzen fliegen sehen. So auch heute: Zwischen „Du hast dir die Pause verdient!“ und „Wer rastet, der rostet, du faules Stück!“ sind alle Argumente vertreten. Jetzt muß ich nur noch eines herausfischen, das die Ausgangsfrage kurz und knapp beantwortet.

„Ja.“ sage ich und sehe im gleichen Moment, wie wenig zufriedenstellend diese Antwort ist. „Wie, ja?“, fragt sie, „was meinst du damit?“ Ich ziehe die Schultern hoch, „ja, ich schreibe noch. Nur jetzt halt nicht.“ Ob das genügt? 

„Psst,“ flüstert der Engel auf der einen Schulter, „psst, du musst dich nicht rechtfertigen. Vergiss das bloß nicht!“ Ich nicke dem Engel zu. Dankbar nehme ich den Ratschlag an, strecke das Kreuz versuchsweise selbstbewußt durch. „Aha… nur jetzt halt nicht.“ Sie klingt nicht so, als ob ihr meine Antwort genügen würde. „Dann bin ich ja mal gespannt, wie lange „jetzt halt nicht“ anhält.“ Sie dreht sich um und hebt zum Abschied die Hand zum Gruß. Es liegt wieder viel Forderndes darin, so als wäre ich ein trödelndes Kind und müßte lediglich folgsam sein und endlich mal zu Potte zu kommen. Weil: Schreiben ist ja im Grunde überhaupt nicht schwierig. Man muss nur die verschiedenen Buchstaben in die richtige Reihenfolge bringen und schon hat man einen Text.

„Psst,“ flüstert mir der gute Engel erneut zu, „psst, es ist vollkommen unwichtig, ob ihr die Antwort genügt. Entscheidend ist, dass du dich wohl fühlst.“ Heute hängt er sich echt rein, der gute Engel. Vielleicht hat er aber auch nur ein schlechtes Gewissen, weil er die letzten Monate auf jemandes anderen Schulter gesessen und mich mit dem Teufel allein gelassen hat. Der holt auch gleich zum nächsten Sidekick aus, schließlich war er einige Zeit der Chef im Ring. „Was heißt hier wohlfühlen? Jede Woche ein Blogeintrag! Das ist deine eigene Vorgabe. Wenn du jetzt schon einknickst und Pause brauchst, brauchst du auch gar nicht daran zu denken, jemals aus diesem erbärmlich schlichten Stadium des Schreibens heraus zu kommen! Jammerlappen!“ 

Ich schrumpfe wieder zu Normalgröße. Er hat ja recht, der Teufel. Seit zwei Wochen habe ich keinen einzigen Buchstaben geschrieben. Nicht mal die wenigen losen Gedanken- und Traumfetzen notiert. Ich habe zwei Wochen lang einfach nichts gemacht! Beschämt blicke ich wieder zu Boden und wage es kaum meinen Blick wieder zu heben. „Wehret den Anfängen!“ donnert der Teufel. Seine Stimme läßt keinen Widerspruch zu. „Wehret den Anfängen!“

Sogar der Engel ist angesichts der Wucht in Teufels Stimme beeindruckt. „Willst du es nicht wenigstens mal versuchen?“ zirpt er mir ins Ohr. „Nur ein paar Sätze. Zu Übungszwecken. Wer weiß, vielleicht kommt ja am Ende ein ganz ansehnlicher Text dabei heraus.“ 

Zaghaft öffne ich das Schreibprogramm, starre auf die weiße Bildschirmoberfläche. Atme ein. Atme aus. Denke nach. Der Bildschirm bleibt weiß. 

Der Engel auf meiner Schulter beginnt nach kurzer Zeit ungeduldig zu trippeln. „Uuuund? Spürst du schon was?“ „Nein, verflixt! Und bei dem Getrampel auf meiner Schulter kann das auch unmöglich was werden!“, möchte ich ihm zurufen, bleibe jedoch still. Er meint es ja nur gut mit mir. Die größere Sorge indes bereitet mir der Teufel auf der anderen Schulter. Er sitzt nur da und grinst. Ein Kraft und Ideen aufsaugendes Grinsen, ein siegesgewisses „Du schaffst es ja doch nicht!“. Alles an seiner Körperhaltung zeigt mir seine Überlegenheit. DU SCHAFFST ES NICHT! 

Jetzt ist es genug. Jetzt reicht es mir! So viel Impertinenz am hellen Sonntagmorgen ist unerträglich. Ich drehe meinen Kopf in Teufels Richtung, öffne den Mund. „ Halt den Schnabel, du alter Miesepeter!“ zische ich ihn an. „Vielleicht schaffe ich es heute wirklich nicht, das mag durchaus sein. Vielleicht schaffe ich es auch morgen und übermorgen nicht. Wenn die Zeit jedoch reif ist, werde ich es wieder schaffen. So, wie ich es schon oft geschafft habe. Also verschwinde endlich von meiner Schulter und lass mich einfach in Ruhe.“

Der Teufel glotzt mich an, meine Worte scheinen ihn zu schwächen. „Hau ab!“, setze ich noch einmal nach und fege ihn mit einer einzigen Bewegung von meiner Schulter. Der Engel auf der anderen Seite beginnt zu kichern. „Dem haben wir’s aber gegeben.“ Überschwänglich trippelt er auf und ab. „Wir?“, frage ich. „Wir?“ Ein verlegenes Räuspern, das Rascheln von Engelsflügeln. „Ich muss dann auch mal weiter. Wir seh’n uns dann. Tschö-hö.“

Es ist schön, wieder alleine zu sein. Niemand, der dazwischen redet, keiner der stört. Meine Finger bewegen sich nun wie von selbst auf der Tastatur. Wie der Titel des Textes lauten wird, steht noch nicht fest, aber den ersten Satz habe ich schon geschrieben: „Sag mal, schreibst du eigentlich noch?“

Text: A. Müller

Zuversicht ist ausverkauft

Der Verband der Einzelhändler ist in diesem Jahr nicht mit den Umsätzen zufrieden. Man läge weit hinter den Erwartungen und fürchtet, die in den Regalen verbliebenen Artikel zu Jahresbeginn verramschen zu müssen. Die aktuelle Situation, politische Entscheidungen und das Angebot der Internet-Händler seien schuld, dass der stationäre Handel so schlechte Zahlen schreibt.

Vielleicht liegt es aber an etwas vollkommen anderem. Vielleicht würde eine Änderung des Sortiments eine Umkehr bringen.

Was wäre, wenn man sich statt materiellen Dingen anzubieten, auf anderes, auf ideelles besinnt? Aber wie verkauft man Hoffnung und Zuversicht? Darf Hoffnung überhaupt verkauft werden? Wie kann Vertrauen und Lernbereitschaft abgewogen und verpackt werden? Was braucht es, um den Konsum von geistiger Nahrung zu steigern?

Während uns die Welt um die Ohren fliegt und wir uns mit immer schneller transportierten Nachrichten, Gerüchten und Spekulationen beschäftigen, liegt die Versuchung nahe, all dies mit Konsum zu deckeln. Wir kaufen, um zu vergessen. Wir kaufen, nicht weil wir etwas wirklich benötigen, sondern, um uns von all den beängstigenden Geschehnissen auf der Welt abzulenken. Ein Schutzmechanismus, der zwar verständlich, jedoch völlig unbrauchbar ist um gesund zu bleiben. Man hat dann ein paar Schuhe mehr im Schrank, ein weiteres Auto in der Garage stehen, aber die Situation, die uns so beängstigt, ist unverändert. 

Könnten wir doch bloß irgendwo ein Päckchen Zuversicht kaufen. Eine kleine Menge würde schon ausreichen, um dieses unangenehme Gefühl in der Magengegend loszuwerden. 

Aber Zuversicht ist ausverkauft. Schon lange. Ob sie überhaupt noch produziert wird? Und von wem?

In einer Welt, in der es alles zu kaufen gibt, ist Zuversicht zur Mangelware geworden. Dabei bräuchten wir sie gerade jetzt ganz dringend. 

Findige Geschäftemacher haben das ebenso bemerkt und bieten auf allen möglichen Kanälen Hoffnung an. Sie nennen sich Kirche, sie nennen sich Partei, sie nennen sich Alternative, sie nennen sich Freiheitskämpfer. Die einzige Hoffnung, die sie dabei haben, ist ihre eigene. Sie hoffen auf schnelles Geld und auf Macht. Wirkliche Zuversicht, also jene, die ihren Kunden ein friedlicheres Leben bieten könnte, haben sie nicht im Angebot. Aber das merken die Kunden meist viel zu spät.  Erst wenn sie unter Tränen all ihre Hoffnungen auf Besserung begraben haben, erst dann merken sie, dass Zuversicht nicht käuflich ist.

Hoffnung und Zuversicht kann man nicht kaufen. Verkaufen darf man sie schon zweimal nicht. Wer Hoffnung gegen Geld eintauscht ist meist ein Lügner und Heuchler.

Gibt es denn keine Hoffnung für die Hoffnung? Wie kann sie dann geteilt und vervielfältigt werden? 

Hoffnung und Zuversicht sind Gaben. Man kann sie verschenken. Wer sie ohne Hintergedanken teilt, nährt sie gleichzeitig und nimmt seinen Mitmenschen den Druck in der Magengegend. 

Hoffnung und Zuversicht wachsen im Inneren. Sie sind erst klein und zerbrechlich, können mit der Zeit jedoch zu unglaublichen Veränderungen führen. Wer schon einmal eine schwierige Situation gemeistert hat, der weiß, wie sich Zuversicht anfühlt. Zuversicht gründet sich auf den eigenen Stärken und dem Wissen um die eigenen Schwächen. 

„Aber das ist doch anstrengend und zeitraubend!“ mag jetzt vielleicht der eine oder andere einwenden. Ja, genau. Das ist es. Deshalb gibt es ja auch so wenig Zuversicht. 

Wir kaufen lieber Zeugs oder glauben den Leitsätzen von Anderen und ersticken unsere eigenen Hoffnungen im Keim. In der Folge werden wir dann immer unzufriedener, nörgeln an allem und jedem herum und schreien nach Veränderung. 

Wer sich allerdings die Zeit nimmt und sich überlegt, welche Hoffnungen er oder sie eigentlich hat,   der wird reich belohnt. Wenn man nachdenkt, trennen sich schnell die Luftschlösser und naiven Hoffnungen von jenen, die umsetzbar sind. Man wird sich im Laufe der Zeit seiner selbst sicherer. Darauf begründet sich dann die Zuversicht.

Nicht ALLES wird gut, aber jenes, auf das man vertraut.

Es gibt also doch Hoffnung. Sie ist individuell und gleichzeitig exponentiell. Je stärker sich die Hoffnung verbreitet, desto größer die Zuversicht.

Vielleicht ist die Zuversicht doch nicht ausverkauft. Vielleicht liegt sie zur Zeit einfach irgendwo ganz hinten, leicht angestaubt im Regal.

Machen wir uns doch auf, sie zu suchen. Pusten wir vorsichtig den Staub ab, geben ihr ein warmes und sonniges Plätzchen und warten ab, ob sie sich vergrößert. 

Das jedenfalls, ist meine ganz private Hoffnung.

Text. A. Müller 

Du bist ein Licht am Firmament

Still sitze ich da und schaue in den Nachthimmel. Mein Brustkorb hebt und senkt sich nur leicht, das Atmen fällt mir schwer. Am liebsten würde ich nicht gar mehr weiter atmen. Einfach damit aufhören. Dann müßte ich diese Schwere nicht mehr ertragen. Die Sehnsucht nach einem Menschen hat ein unglaubliches Gewicht. Es lastet auf meinen Schultern, drückt auf meinen Brustkorb. Tonnenschwere Sehnsucht raubt mir den Atem..

Wie gerne würde ich dich noch einmal halten. Dir über die Haare streicheln, deine kleine Hand in meiner Großen spüren. Ich würde alles dafür tun, noch einmal dein Lachen zu hören, in deine Augen zu schauen. Mein Kind, du fehlst mir so.

Wo soll ich hin mit mir? Wo soll ich hin mit meiner Sehnsucht?

Ich blicke in den Nachthimmel. Das ist irgendwie besser, als sich schlaflos im Bett zu wälzen.

Unzählige Sterne sind dort oben am Firmament zu sehen. Manche leuchten hell, manche haben nur wenig Strahlkraft. Ich suche mir einen hell strahlenden Stern aus, stelle mir vor, er wäre du. Denn du warst das Hellste und Strahlendste, was mir in meinem Leben begegnet ist. 

Der Stern leuchtet mir direkt ins Herz. Zuerst kann ich sein Strahlen kaum aushalten, habe das Gefühl, dieses Licht bringt mein Herz zum bersten. Dann traue ich mich tief einzuatmen und plötzlich weitet sich mein Herz. Es läßt die Strahlen hinein und wärmt mich. Mein Kind, ich kann dich nicht mehr berühren, doch nun spüre ich deine Gegenwart. Mein Kind, du tust mir so gut. Du bist so weit entfernt und doch so nah. Wir sind von einem unsichtbaren Band verbunden, ein unzerreißbares, festes Band, verankert in der Mitte unserer Herzen. 

Manchmal scheint es zu schwingen, dieses Band. Dann bringt es Töne in mir zum Klingen, die ich vorher nie gekannt habe. Es sind süße Klänge voller Liebe. Es sind bittere Klänge voller Trauer. Manchmal sind es auch harte Klänge voller Wut. Der Tod, der Schuft und Spielverderber, hat dir dein Leben genommen, bevor es überhaupt beginnen konnte. Der Tod nahm dir das erste Lächeln, den ersten Zahn, den ersten Schritt. Er nahm dir alle ersten Male. Aber das Band zwischen uns, gewebt aus Liebe und Sehnsucht, dieses Band kann er nicht durchtrennen. Wo Liebe ist, hat der Tod keine Macht, so sagt man. Beim Blick in den Nachthimmel höre ich den feinen, gläsernen Klang der Liebe und spüre im Hintergrund dennoch die dunklen Vibrationen tiefer Traurigkeit.

Mein Kind, du fehlst mir so.

Ich frage mich, ob ich jemals wieder frei und ohne die Last der Sehnsucht atmen kann. Ich frage mich, warum es mir so schwer fällt, dich loszulassen. Wir haben uns doch kaum gekannt. Unsere gemeinsame Zeit war viel zu kurz, um uns richtig kennenzulernen. Warum durfte dein Licht nicht hier bei mir erstrahlen? Das ist doch nicht fair! Man sagt mir, ich solle dankbar für die gemeinsame Zeit sein. Auch wenn sie nur kurz währte. Ich möchte mir nicht sagen lassen, was ich zu fühlen habe! Ich möchte am liebsten gar nichts mehr fühlen müssen. 

Der Blick in den Nachthimmel beruhigt meine aufgewühlten Sinne. Ich stelle mir vor, wie dein Leuchten mich fortan begleiten kann. Denn mein Leben, hier und ohne dich, geht weiter. Ich muss mich fügen in das Unabänderliche. Ich muss aushalten, aber ich will nicht aufgeben. Die Trauer um dich, ist die größte Aufgabe, die ich in meinem Leben bewältigen muss. Ich habe mir diese Aufgabe nicht ausgesucht. Aber es hilft nicht, mich dagegen zu sträuben. Ich schaue in den Nachthimmel und kratze all meinen Mut zusammen. Es wird viel Mut brauchen, um wieder Vertrauen ins Leben zu finden. Vielleicht kann dein Licht mir dabei helfen? Dein helles Strahlen in der Nacht gibt mir die Gewissheit, dass du da bist und dass du da bleibst. 

Du bist mein Licht am Firmament. Du leuchtest mir direkt ins Herz und hilfst mir, wieder Kraft zu schöpfen. In schlaflosen Nächten kann ich zu dir empor schauen, kann um dich und um mich weinen. 

Du bist mein Licht am Firmament. Du gibst mir die nötige Zeit, deinen Verlust zu verarbeiten. Du stellst mir kein Ultimatum. 

Du bist mein Licht am Firmament. Du machst mir kein schlechtes Gewissen, wenn ich einst wieder laut lachen und mein neues Leben ohne dich genießen kann.

Du bleibst ein Teil von mir.

Du bist mein Licht am Firmament.

Text: A. Müller

Wunsch und Wirklichkeit

Jedes Jahr um diese Zeit taucht sie auf, die Frage aller Fragen: „Was wünschst du dir denn zu Weihnachten?“, und jedes Jahr um diese Zeit weiß ich keine Antwort darauf. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen habe ich mir schon mehrmals gewünscht. Bekommen habe ich es nie. Also nehme ich mir jedes Jahr um diese Zeit vor, im kommenden Jahr meine Wünsche akribisch zu notieren, um auf die Weihnachtsfrage vorbereitet zu sein. Die Vorweihnachtszeit ist ja schon anstrengend genug, wie schön wäre es die Wunschfrage wie aus der Pistole geschossen beantworten zu können. 

Das mit den Wünschen ist ja so eine Sache für sich: je konkreter sie sind, desto eher setzt man sie selbst um. Das ist dann richtig blöd für potentielle Schenkende. Bleibt man jedoch in der Äußerung der eigenen Wünsche diffus, steigt das Risiko, etwas völlig Unpassendes geschenkt zu bekommen. Dann sind am Ende auch wieder alle enttäuscht. 

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich als Kind stundenlang über meinen Wunschzettel gebeugt saß, ihn mit Buntstiften bebilderte und ehrlich hoffte, wenigstens einen der Wünsche erfüllt zu bekommen. Die Abenteuer von Petzi, dem Bären standen lange hoch im Kurs, später wünschte ich mir Bücher aus der „Was ist was?“- Reihe. Eigentlich wünschte ich mir immer Bücher. Da konnte nicht viel schief gehen. Bücher waren konkrete und dennoch bescheidene Wünsche. Die Vorgabe der Eltern, Oma, Onkel, Tanten war allerdings: „Und schreib nicht nur Bücher auf den Wunschzettel!“ Also notierte ich noch ein neues Kleid für die Barbiepuppe auf dem Zettel. Die Arme hatte nach einer heimlich durchgeführten Operation am Kopf ein klaffendes Loch (ich wollte wissen, ob Barbies ein Gehirn haben) und ein neues Kleid würde den verursachten Schaden vielleicht überdecken. Dass die „Operation Barbie“ dadurch erst ans Licht der familiären Öffentlichkeit kam, ist eine andere Geschichte. Allerdings führten die Erfahrungen der nachfolgenden Maßregelungen dazu, beim Schreiben der künftigen Wunschzettel cleverer vorzugehen.

Heute schreibe ich keine Wunschzettel mehr. Die Illusion, einmal notierte Wünsche auch erfüllt zu bekommen, ist in den späten Jahren der Kinder- und Jugendzeit endgültig flöten gegangen. Unser „Grischtkendle“ war nämlich knapp bei Kasse und Schwäbin in Personalunion. Oft gab es aus Kostengründen eine Billigversion des eigentlichen Wunsches. „Des duat’s au.“ schien die himmlische Maxime zu sein. Manchmal versuchte das „Grischtkendle“ sogar, meine intellektuellen Fähigkeiten zu erweitern und brachte statt dem gewünschten Album von Iron Maiden eine Langspielplatte von Mahalia Jackson. Mit 14 findet man das überhaupt nicht lustig. 

Mit 14 schmerzt die Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit besonders. Gerade in diesem Alter möchte man wahr- und ernstgenommen werden. Werden geäußerte Wünsche dann negativ bewertet, oder einfach übergangen, hinterläßt dies Spuren. Spuren, die sich bis ins Erwachsenenalter ziehen und die dafür sorgen, dass man sich nicht unbedingt auf Weihnachten freut. Denn wenn man wiederholt Wünsche äußert und von der Wirklichkeit dann eines Besseren belehrt wird; tja, dann wünscht man sich eben einfach nichts mehr. 

„Ja, aber hast du denn gar keine Wünsche?“ werde ich gefragt, wenn ich mit genervtem Gesichtsausdruck sage, ich wünsche mir nichts. Ehrlich, mir tun die Fragenden wirklich leid. Da gibt es Menschen in meinem Umfeld, die mir ehrlich und von Herzen eine Freude machen wollen. Menschen, die mit den Erfahrungen aus Kindheit und Jugend überhaupt nichts zu tun haben und ich reagiere genervt. Es ist nicht leicht mit mir, ich geb’s ja zu. 

Aber dann schaue ich mich in der Wohnung um: volle Bücherregale in fast jedem Zimmer, der Kleiderschrank ist auch gut gefüllt. Schöne Bilder mit persönlichem Bezug zu den Künstlern hängen an den Wänden. Das Handy und der Laptop sind ebenso noch voll einsatzfähig und müssen nicht ersetzt werden. Was also sollte ich mir wünschen? Ich hab’ doch alles.

Obwohl… ein paar Wünsche gäbe es vielleicht doch.

In der Winterzeit wünsche ich mir ein zusätzliches Fenster im Wohnzimmer, um jeden Sonnenstrahl einfangen zu können.

Für den Sommer wünsche ich mir zwei Laufenten in den Garten. Dann müßte ich die gefräßigen Schnecken nicht alleine einsammeln.

Im Job wünsche ich mir noch ein weiteres nettes Teammitglied, damit sich die viele Arbeit auf mehreren Schultern verteilt.

Und wenn wir schon mal dabei sind: ein paar Schafe im Garten wären auch toll. Dann müßte sich der nette Nachbar nicht so mit dem Rasenmäher plagen. Alternativ würde auch ein Pony gehen, der Garten ist klein. Die Erbenerbinnen tät’s sicher freuen.

Zum Glück bin ich keine 14 mehr und kann mittlerweile mit der Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit umgehen. Ich weiß, dass ich zu Weihnachten kein Pony bekommen werde. Schon allein, weil man es so schlecht einpacken und im Schrank zwischen den Socken verstecken kann. 

Der Grund meiner Wunschlosigkeit ist einfach: ich bin zufrieden. Alles was ich zu einem komfortablen Leben benötige ist vorhanden. Zusätzliche materielle Dinge sind mir unwichtig geworden.

Wenn ich mir heute also etwas wünschen darf, dann gilt dieser Wunsch nicht nur an Weihnachten: ich wünsche mir ein gutes, freundliches Miteinander, in der Familie, im Job, im Freundeskreis. 

Ich wünsche mir offene Ohren, Herzen und Türen.

Ein kurzer und knackiger Wunschzettel, der gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt ist.

Euch allen wünsche ich einen ruhigen 2. Advent. Bleibt gesund!

Text: A. Müller