Heute Abend, nach Einbruch der Dunkelheit ziehen sie wieder um die Häuser. Sie lassen ihre spitzen Eckzähne bei jedem Lächeln aufblitzen, schleifen bluttriefende Körperteile hinter sich her und haben ihren Spaß am Erschrecken anderer. Es ist Halloween, die Nacht des Grauens und Grusels.
Wenn sich das Grauen doch nur auf diese eine Nacht beschränkte. Wenn der Grusel morgen früh doch wieder vorbei wäre.
Dann hätten wir unserer kalendarischen Pflicht genüge getan und könnten wieder zum Alltag zurück kehren.
Scheuklappen aufgesetzt und irgendwie durchs Leben gelebt. So, wir wir das von den Altvorderen gelernt haben.
Alles, was nicht in unser komfortables Leben passt, wird einfach ignoriert und wenn wir uns über etwas echauffieren, dann sollen es für gewöhnlich andere richten. Schließlich bezahlen wir ja Steuern.
Was irgendwie nicht klar genug zu sein scheint: das große Grauen wird erst noch kommen, da gibt es kein vertun. Nachdem wir uns Jahre, ach was, Jahrhunderte mit süßem und unbeschwert erscheinendem Leben vollgestopft haben, wird uns unser Handeln und vor allem unser Nichthandeln verdammt sauer aufstoßen.
Ein nicht unbedeutender Teil der Welt kommt übrigens jetzt schon in den zweifelhaften Genuss einer immer währenden Halloween-Nacht. Ganz konkret kommt dort das Grauen im Sterben vieler unterernährter Kinder. Jeden Tag halten dort Eltern ihre kranken Kinder im Arm, wissen nicht, wie sie an sauberes Wasser, Essen oder Medikamente gelangen sollen.
Zu polemisch? Nicht euer Problem? Selber schuld, wenn die so viele Kinder in die Welt setzen?
Doch, es ist euer Problem! Eures, meines, unseres.
Wir, die westliche und industrialisierte Welt, tragen den Großteil der Verantwortung für die Auswirkungen des Klimawandels, wir tragen Verantwortung für die katastrophalen medizinischen Verhältnisse in sogenannten Drittländern.
Für viele afrikanische Staaten begann die Nacht von Halloween und damit das Grauen, zu Zeiten der Kolonialisierung. Die Kolonialmächte wie England, Deutschland, Frankreich und die Niederlande raubten und plünderten auf dem afrikanischen Kontinent. Wer sich wehrte wurde getötet.
Im Schlepptau der staatlichen Invasoren war natürlich die katholische Kirche. Sie prügelte den Menschen so lange das Christentum ein, bis sie ihre eigenen Wurzeln verleugneten. Die Auswirkungen dieser Entwurzelung sind bis heute zu sehen.
Als die Länder in Afrika dann endlich unterjocht, ausgeplündert und all ihrer Traditionen beraubt waren, verließen die europäischen Monster die Gegend und überließen die ansäßigen Menschen sich selbst.
Übrigens: nicht nur in Afrika. Der indische Subkontinent, Australien, ganz Amerika von Norden bis Süden, wurde von den unseligen europäischen Geistern heimgesucht.
Ganz schön gruselig, nicht wahr?
In vielen dieser Weltgegenden haben die Menschen schon lange keine Perspektive auf ein friedliches Leben mehr und machen sich nun auf den Weg. Doch anstatt ihnen zu helfen, bauen wir Mauern, versenken Boote und manche fordern gar eine Erschießung der Menschen an den Grenzen. Wir engagieren Warlords, die die Menschen auf ihrem Weg aufhalten und gegebenenfalls auch mal kurz umlegen.
Fürchten wir die Rache derer, die wir einst so schändlich behandelt haben?
Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt das echte Grauen der letzten Jahrhunderte. Für viele nimmt es einfach kein Ende.
Never ending Halloween.
Im Grunde muss man, wenn man sich ordentlich gruseln will, gar nicht bis nach Afrika oder in ein anderes fernes Land. Hierzulande ist der Gruselfaktor auch ganz ordentlich.
Da gibt es doch tatsächlich politische Parteien, die sich über die Wirtschaftlichkeit des Klimaschutzes Gedanken machen. Im Kern heißt das nichts anderes, als das man sich noch einmal richtig die Taschen füllen will, bevor… ja, bevor was eigentlich?
Virtuelles Guthaben (nichts anderes ist das Geld auf Bankkonten), bleibt virtuell. Wird das Trinkwasser knapp, fallen Ernten aus, hilft das virtuelle Geld nur ganz kurz beim überleben. Wenn die natürlichen Ressourcen erst einmal geplündert sind, wird man von seinem Reichtum auch nicht mehr satt.
Jenen, die sich aufrichtig um eine positive Veränderung bemühen, sprechen oben erwähnte Parteien gerne die Kompetenz ab. Es ist wirklich gruselig mitansehen, wie eine Generation um das Fortbestehen der Erde kämpft und eine andere Generation weder willens noch in der Lage ist, etwas anderes zu tun als sesselpupsend Geld zu horten.
Aber wer weiß, vielleicht hat das Grauen ja doch bald ein Ende. Corona, das weltumspannende Virus nimmt einen neuen Anlauf und arbeitet sich durch alle Länder.
Wer auf Gruselgeschichten steht, kann sich ja mal durch die letzten beiden Jahre seit Ausbruch des Virus arbeiten. Erst wurde es für ein regionales chinesisches Problem gehalten (geht uns ja nichts an..), dann hielt man den Erreger für „grippeähnlich“ und später wurde ein großes Geschäft damit gemacht. Vor ein paar Jahren hätte niemand gedacht, dass man mit Masken so viel Geld machen kann.
Mit der Impfung gegen das Virus erhofften wir uns alle eine Atempause. Wir dachten, so könnten wir dem Grauen Einhalt gebieten. Während in Gruselfilmen das schauerliche Lachen aus dem Off kommt und Böses ankündigt, bleibt uns in der Realität mittlerweile das Lachen im Halse stecken.
Offene Clubs, endlich wieder Konzerte, Kinos, Veranstaltungen. Kommt zur langen Einkaufsnacht, kommt zum Weihnachtsmarkt! Die Infektionszahlen und die Hospitalisierungen sind höher als zur gleichen Zeit im letzten Jahr. Da gingen wir dann in einen neuen Lockdown.
Jetzt wird gelockert. Und die Leute tun so, als wären sie unverwundbar. Wie gruselig.
Das alles zusammen, gepaart mit Vulkanausbrüchen, Erdbeben und Unwetterkatastrophen, ist Realität. Sie betrifft dich, mich, uns alle. Vielleicht nicht jetzt im Moment, aber in seinen Auswirkungen doch in greifbarer Zukunft.
Dieses Grauen hat mehr Substanz als wir ahnen. Es ändert unser Leben nicht nur äußerlich. Dieses Grauen wirkt sich auf unser Gemüt und unsere sozialen Fähigkeiten aus. Dieses Grauen arbeitet mit Akkuratesse, es setzt auf Spaltung, Verrohung und Wut.
Ob wir es aufhalten können? Gibt es ein Happy End in diesem Gruselfilm?
Ich weiß es nicht.
Aber ich wünsche mir, dass irgendwann einmal das Gruseln und Schauern nur auf eine Nacht im Jahr begrenzt sein wird.
Einer Nacht, in der sich die Kinder mit Süßkram vollstopfen und trotz ziemlich verdorbenem Magen glücklich einschlafen.
In diesem Sinne: Happy Halloween!
Text: A. Müller