Wir haben uns gewöhnt

Eines muss man der Menschheit ja lassen: seit dem Abstieg von den Bäumen und der Eroberung der Savannen hat sie sich immer an die jeweiligen Lebensbedingungen angepasst. Gab es vor Ort kein Wasser, wanderten die ersten Menschen so lange, bis sie frisches Wasser fanden. Wurde die Nahrung knapp, zog man einfach in ergiebigere Jagdgründe. Sie passten sich der Umwelt an, vielleicht begriffen sie sich sogar als Teil der großen Weltmaschine. Migration war unter den ersten Menschen etwas vollkommen normales. Anders hätten sie nicht überlebt.

Heute, gut 2 Millionen Jahre später, nutzen wir modernen Menschen immer noch diese archaische Fähigkeit; wir gewöhnen uns an die Anforderungen, die uns im Laufe unserer Epoche begegnen.

Wir wissen instinktiv um die Vorteile der Gewöhnung. Ohne sie hätten wir die besagten 2 Millionen Jahre überhaupt nicht überstehen können. Wir wären ausgestorben wie die Dinosaurier. Diese Loser hatten’s einfach nicht drauf. Kaum fiel der Komet vom Himmel, fanden sie keine Nahrung mehr, kamen mit der Kälte nicht zurecht und fanden sich mit den neuen Bedingungen einfach nicht ab. Zum Glück waren zu jener Zeit weder Demonstrationen noch Sprache erfunden. Doch selbst wenn es beides schon gegeben hätte, wären die Instrumente der freiheitlichen Grundrechte wirkungslos geblieben. So ein Komet läßt sich von ein paar demonstrierenden Dinos nicht beeindrucken. Der zieht einfach sein Ding durch und hält sich an den kosmischen Plan.

Zack! Bumm! Fertig! Ende der Diskussion.

Da war die Erfindung des aufrechten Ganges und des vergrößerten Gehirn bei uns Menschen schon eine gute Investition in die Zukunft. Über die Jahre hatten wir immer irgendwie das Beste aus allem gemacht. Egal was da im Laufe der Zeit über uns hereingebrochen war, wir stellten uns den Anforderungen. Wir überstanden Kriege, diverse Seuchen, Diktatoren und vieles mehr. 

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann …. blablabla…

Vielleicht liegt das Fortbestehen der Menschheit mehr in ihrem Hang zur Bräsigkeit begründet, als in einem rückblickend herbei geredetem Heldentum. Klar, ohne ein paar herausragend kluge Köpfe wie Louis Pasteur, Madame Curie oder Albert Einstein wären wir heute nicht da wo wir sind; aber die Menschheit an sich, hat sich, um zu überleben, einfach ein dickes Fell zugelegt. Lass mal stecken, wird schon irgendwie gut gehen. Das war und ist die Devise.

Wir haben uns schon immer auf unsere Sofas gelegt und die „anderen“ mal machen lassen. Hauptsache, wir waren satt, froren nicht und konnten uns frei bewegen. Die Errungenschaften der Wissenschaft nahmen wir gerne an und gewöhnten uns an deren Vorzüge. 

Im Laufe der Zeit konnten wir uns an fließendes, ja sogar warmes Wasser gewöhnen und mussten nicht mehr mitten in der Nacht quer über den Hof zum Lokus wandern, wenn wir mal mussten. Wir gewöhnten uns an helles Licht, an schnelle Nachrichtenübermittlung, an bewegte Bilder. Wir gewöhnten uns an die Verfügbarkeit aller Waren, an schnelles Reisen und hervorragende medizinische Versorgung.

All diese Dinge wurden vollkommen normal. So normal, dass wir sie wütend einfordern, wenn sie einmal nicht verfügbar sind.

Wir glauben, weil wir uns daran gewöhnt haben, sie stünden uns zu.

Dabei verlieren wir allmählich die Verhältnismäßigkeit aus den Augen. Wir haben uns an bestimmte Dinge so sehr gewöhnt, dass wir uns immer mehr Übergriffe leisten. Wir wollen ein bestimmtes Produkt kaufen, der Händler hat es jedoch nicht auf Lager. Muss er erst bestellen, in zwei Tagen ist das Produkt dann wieder vorrätig. Also wird er zur Sau gemacht, der Händler. Was ist das überhaupt für eine Art Dienstleistung, wenn der Kunde nicht SOFORT zufriedengestellt wird? Manche Zeitgenossen schreiben dann auch gleich eine wütende Bewertung im Internet und tragen auf diese Art dazu bei, dass ein gutes Unternehmen einen schlechten Ruf bekommt. Diese Kunden sehen sich dazu absolut berechtigt, denn sie haben sich einfach an die sofortige Bedürfnisbefriedigung gewöhnt.

Wir haben uns so sehr an einen reibungslosen Ablauf des Alltags gewöhnt, dass wir mit Störungen und Krisen nicht mehr zurecht kommen. Jahrzehntelang lief alles wie am Schnürchen. Kaum hatten wir uns nach dem 2. Weltkrieg wieder gerappelt, ging es steil bergauf. Alles wurde besser, schneller, moderner. Wir Kinder der 50/60/70 Jahre wuchsen in stabilen und friedlichen Zeiten auf. Wir kennen keinen Krieg, wir haben mehr Nahrung als wir jemals essen können. Wir haben uns daran gewöhnt, wie die Made im Speck zu leben.

Nur sehr ungern stehen wir von unserem Sofa auf und betrachten die Problematik unserer Epoche. Migration, Klimaveränderung und Pandemie sind die Anforderungen der Zeit. Wir müssen uns klarer darüber werden, wie viel Glück wir die letzten 60 Jahre hatten, ein mehr oder weniger unbeschwertes Leben führen zu können. 

Wir müssen uns nun überlegen, wie viel Gewöhnung dem Globus und der Menschheit gut tut und uns dieser Verantwortung bewußt werden. Das schiere Einfordern von vermeintlichen Rechten ist dabei wohl eher hinderlich als helfend. Es ist nicht an einer Lösung oder gar einer Weiterentwicklung interessiert, das bloße Einfordern garantiert nicht einmal den Erhalt des Status Quo. Es ist lediglich ein trotzige Aufstampfen.

Die letzten paar Millionen Jahre hat uns unsere Bräsigkeit keinen Nachtteil gebracht, nun aber steht eine neue Epoche in der Evolutionsgeschichte vor der Tür: die Zeit der Entwöhnung hat begonnen.

Klar, wir können jetzt Schilder hochhalten und dagegen demonstrieren. Wir können unsere freiheitlichen Grundrechte bis auf den letzten Tropfen Blut verteidigen.

Es wird nur nichts nützen. Der kosmische Plan reagiert nicht auf Gerede, Versprechungen und hohle Phrasen. Der kosmische Plan diskutiert sowieso nicht. Der zieht einfach sein Ding durch. Ob wir mitziehen, liegt an uns.

Text: A. Müller

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